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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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er legte den Brief auf den Tisch. Es war nur ein einziger Bogen, das Papier war dünn und die Schrift so winzig, als wäre sie unter einem Vergrößerungsglas geschrieben worden. Es waren lauter deutlich voneinander abgesetzte Druckbuchstaben, die steif und schwarz über die Seite liefen wie von Marianne mit ihren Alphabetklötzen aneinandergelegt.
    LIEBER MR. UND MISSUS LESTER –

    ICH BIN EIN ALTER MANN, SEIT ZWEIUNDSIEBZIG JAHREN AUF DIESER ERDE UND ICH LEBE IN NORMAN OKLAHOMA UND HAB KEINEN DER SICH UM MICH KÜMERT. ICH HAB NIE GEHEIRATET UND KEINE SÖNE UND TÖCHTER UND BIN SCHON SEIT JAREN GANZALEIN. ICH BIN ABER NOCH STARK UND RÜSTICH UND WILL NICHT ALEIN STERBEN. KANN ICH NICHT BEI IHNEN UND IHRER SCHÖNEN FAMILIE LEBEN. ICH KANN BESSER ARBEITEN ALS SO MANCHER JUNGE. BITTE SAGEN SIE JA UND SCHICKEN MIR DAS GELD FÜR DEN BUS NACH KALLIFORNIEN.
    HOCHACHTUNGSVOLL
    MORRIS T. SWENSON
    Sie schwiegen. Es war still, die Lampe beschien den Tisch. Pomo schlief ein – sein Atem ging ruhiger, und dann hörte sie das erste leise Schnarchen. Herbie sah zu ihr auf. »Den musst du beantworten«, sagte er.
    »Nein«, sagte sie, »das kann ich nicht.«
    »Du musst aber.«
    »Ich weiß nicht, was ich ihm schreiben soll.«
    »Schreib ihm, dass er allein wird sterben müssen.«
    »Herbie.«
    »Oder nein – schreib ihm, dass wir Glück gehabt haben, sonst nichts. Einfach nur Glück.«
    »Und er nicht?«
    »Genau. Und er nicht.«

DER KÖNIG VON SAN MIGUEL
    Man konnte nie wissen, wie Herbie auf die Nachrichten reagieren würde, die sie im Radio hörten. Manchmal schaltete er den Apparat angewidert mitten in der Sendung aus und ging fluchend und mit stampfenden Schritten im Haus herum, wütend über die Idiotie der Welt und darüber, wie sie, selbst hier draußen, davon betroffen waren. Bei anderen Gelegenheiten pickte er sich aus den Berichten – das galt auch für Zeitungsartikel – einzelne Informationen heraus, die er zu einem rettenden Szenario verwob, über das er Tag und Nacht redete, bis es sogar in ihren Ohren plausibel klang. Sein größtes Ärgernis in dieser Zeit war Mussolini. Als die Nachricht kam, der kleine, schmerbäuchige italienische Hampelmann sei in Äthiopien einmarschiert, wurde er sehr wütend. Hier ging es um Afrika, den Kontinent, von dem er jedesmal träumte, wenn er seine Elefantenbüchse ansah oder sie ehrfürchtig in die Hand nahm, um sie einem Besucher zu zeigen, und nun waren diese Italiener dabei, dieses gewaltige Land zu kolonisieren. Und wozu? fragte er immer wieder. Um es zu vergewaltigen und ausbluten zu lassen und Eingeborenen in Lendenschurzen seinen Willen aufzuzwingen? »Was kommt als nächstes?« fragte er erbittert. »Sollen die Nomaden Spaghetti carbonara von den Rücken ihrer Ziegen essen? Campari Soda in Addis Abeba?«
    Er saß wie festgenagelt vor dem Radio und schäumte, wenn er hörte, wie eine moderne, motorisierte, mit Panzern und Maschinengewehren bewaffnete Armee Haile Selassies hoffnungslos unterlegene Truppen beiseite fegte, Truppen, deren Waffen in ein Museum gehörten und deren magere Pferde und tolpatschige Mulis unter ihnen weggeschossen und den Geiern mit ihren riesigen schwarzen Schwingen zum Fraß liegengelassen wurden. »Speere, Elise, sie verteidigen sich mit Speeren«, sagte er. »Wir müssen etwas tun. Wir können nicht einfach herumsitzen und zulassen, dass diese Menschen abgeschlachtet werden.«
    Natürlich empfand auch sie Mitleid, aber in ihren Augen war diese Erregung etwas Vorübergehendes, eine jener Obsessionen ihres Mannes, die ihn für ein, zwei Wochen in Anspruch nahmen, bis die nächste über dem Horizont auftauchte, und in gewisser Weise hatte sie recht, doch diesmal versuchte er, tatsächlich in Aktion zu treten. Als sie eines Nachmittags auf George und seine Maschine warteten, rief er sie ins Wohnzimmer, damit sie einen Brief durchlas, den aufzusetzen ihn den größten Teil des Vormittags gekostet hatte. Er war an Seine Hoheit Kaiser Haile Selassie, den Löwen von Juda, adressiert, c/o Äthiopische Botschaft, Washington, D.C. Angesichts der Tatsache, dass die äthiopische Armee waffentechnisch unterlegen war, bot er ihr für die Dauer des Konflikts – also bis zum Sieg über die Italiener – sowohl seine Gewehre als auch seine Dienste bei der Ausbildung äthiopischer Soldaten an Handfeuerwaffen an. Es spielte keine Rolle, dass besagte äthiopische Soldaten auf der anderen Seite des Erdballs waren und sie und Herbie es sich kaum leisten konnten,

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