San Miguel: Roman (German Edition)
fand, es sei höchste Zeit, ihren Horizont zu erweitern, und wenn sie dabei dreistöckige Häuser, Straßenkreuzungen mit Ampeln, Lokomotiven mit ratternden Waggons, Automobile, Fahrräder, den Markt und den Drugstore und den ganzen Rest kennenlernten – um so besser.
Natürlich bekam die Presse Wind von der Sache, und sie wurden, wohin sie auch gingen, von Reportern und Fotografen verfolgt: Die Schweizer Familie Lester kaufte ihren Kindern Schuhe in einem echten Schuhgeschäft und aß in einem Restaurant, wo man einfach Platz nahm und Leute kamen, um Bestellungen entgegenzunehmen und einen zu bedienen, sie besichtigte eine Bank und das Gerichtsgebäude und ging dann – und das war das Beste von allem – in einen Drugstore, wo die beiden Mädchen das erste Eis ihres Lebens aßen. Was machte es schon, wenn jeder Tropfen, jedes Kleckern für die Nachwelt festgehalten wurde? Die Mädchen waren süß und schüchtern wie sonst auch, und Herbie strahlte und stolzierte und gab an und erzählte den Reportern Geschichten, mit denen sie ein Dutzend Ausgaben hätten füllen können. Elise bestand darauf, dass die Mädchen ihr Eis selbst bezahlten, dass also jede ihre Fünfcentmünze persönlich überreichte, denn auch das gehörte zum Unterricht. Ja, es gab eine Welt jenseits der Insel. Und ja, in dieser Welt gab es Eiscreme, und ja, meine Lieblinge, meine Töchter, meine Süßen, dort bezahlte man mit Pennys, Nickels und Dimes.
Und dann kam der Tag – es war 1939 oder 1940 , sie konnte sich später nicht mehr genau erinnern –, ein Tag mit einem hohen, hellen Himmel und Böen, so stark, dass sie die am Flaggenmast knatternde Fahne zu zerreißen drohten, als ein in braunes Packpapier gewickeltes und mit einem halben Knäuel Bindfaden verschnürtes Paket wie von Zauberhand vor ihrer Tür erschien. Sie war mit den Mädchen im Schulhaus gewesen und hatte mit Marianne schriftliches Dividieren und mit Betsy gemischte Addition und Subtraktion geübt, und Herbie hatte einen seiner Rundgänge gemacht, um nach den Schafen auf den entlegeneren Weiden zu sehen und nach Wilderern Ausschau zu halten, und so hatte niemand etwas bemerkt. Auch das Öffnen und Schließen des Tors hatten weder sie noch die Kinder gehört, weil sie zu sehr in den Unterricht vertieft gewesen waren. Und wegen des Windes. Der schüttelte das kleine, auf Betonblöcken stehende Haus und fuhr mit einem so lauten dumpfen Brausen unter die Dachvorsprünge, dass sie schon mehr als einmal gedacht hatten, George setze mit seiner neuen Beechcraft Staggerwing zur Landung an. Jedenfalls kam sie zu dem Schluss, dass einer ihrer Freunde vom Yachtclub das Paket dort abgelegt haben musste – das war schon vorgekommen. Herbie war nirgends zu sehen gewesen, und den Unterricht hatte der Besucher nicht stören wollen, und so war er eben einfach wieder zurückgefahren. Aber warum hatte er keine Nachricht hinterlassen? Es war ein Rätsel. Ebenso wie das Paket selbst, über das Marianne stolperte, als sie und ihre Schwester in der Pause über den Hof und ins Haus rannten, um zu Mittag zu essen.
Das Paket war an Herbert Steever Lester, Esquire, San Miguel Island, California, U.S.A. adressiert, und der Absender war die äthiopische Botschaft in Washington. Sie trug es hinein und stellte es auf den Küchentisch, und obwohl sie sich vor Neugier verzehrte und die Mädchen ihr in den Ohren lagen, sie solle es öffnen, wollte sie das Herbie überlassen – immerhin war er es ja gewesen, der an den Kaiser geschrieben hatte – und nutzte die Gelegenheit für eine Geographiestunde nach dem Mittagessen. Wo lag Äthiopien? »Hier«, sagte sie und gab dem Globus eine halbe Drehung, so dass der dunkle Kontinent und der gebirgige Keil des Horns von Afrika zu sehen waren, auf dem dieses uralte Land lag, gegenüber der Arabischen Halbinsel. »Und ihr kennt doch die Arabische Halbinsel, oder? Wo die Araber leben. Erinnert ihr euch an die Märchen aus tausendundeiner Nacht ?«
Herbie kehrte erschöpft zurück. Er war bei Chinese Point auf die noch glühenden Reste eines Lagerfeuers gestoßen und hatte erfolglos den ganzen Strandabschnitt abgesucht. Dabei war er weit vom Weg abgekommen und hatte die ganze Feldflasche ausgetrunken, so dass er eine Sickerquelle hatte finden müssen, um seinen Mund zu benetzen. Außerdem war er anscheinend gestürzt, denn auf seinem linken Knie war frischer Schorf. Sobald er durch die Tür trat, liefen die Mädchen ihm entgegen, doch anstatt mit ihnen herumzutanzen,
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