San Miguel: Roman (German Edition)
beiden Bildern, auf denen sie zu sehen war, dick und ungekämmt, und sie musste die ganze Zeit daran denken, dass man sie und ihre Familie nun in jedem Drugstore, Zeitungskiosk und Wartezimmer des Landes begutachten konnte. Bei diesem Gedanken war ihr unbehaglich zumute. Sie stellte sich vor, wie Fremde – Männer in der Straßenbahn, schmutzige Landstreicher in fleckigen Hosen, Mechaniker, Matrosen, Betrunkene – sich schmierig grinsend über diese Fotos beugten und die Gesichter mit Bärten, Teufelshörnern oder Schlimmerem versahen. Womöglich sogar Perverse.
Bis auf ein paar Ausschmückungen unterschied sich der Artikel in nichts von den anderen, doch die Überschrift – »Die Schweizer Familie Lester« – erregte mehr Aufmerksamkeit und brachte ihnen mehr Post als alle anderen Artikel zusammen. Herbie war überglücklich. Was sie betraf, so legte sie zwei druckfrische Exemplare der Zeitschrift in die Truhe und hoffte, dass es die letzten sein würden.
Eines nebligen Abends saß sie mit Herbie im Wohnzimmer, hörte Radio und arbeitete sich durch den neuesten Stapel Briefe, die an »Fam. Lester, San Miguel«, »Herbert Lester, Esq.«, »King Herbert« oder einfach »San Miguel« adressiert waren – »Fanpost«, sagte Herbie dazu –, als das tiefe, laute Nebelhorn eines Schiffs ertönte und sie in die Gegenwart zurückholte. »Die haben ganz schön was zu tun da draußen«, bemerkte Herbie und blickte aus dem Lichtkreis, den die Lampe auf seinen Tisch warf, zu ihr.
»Hier drinnen gibt’s auch viel zu tun«, sagte sie, »bei dieser Masse von Briefen.« Sie saß, ein Tablett auf dem Schoß, im Korbsessel, hielt einen Füllfederhalter in der Hand und beantwortete den zehnten Brief an diesem Abend. »Manchmal wünschte ich, dieser Reporter wäre nie gekommen.«
»Welcher Reporter?«
»Der erste, von der Zeitung in Santa Barbara.«
Er hatte seine Lesebrille aufgesetzt, die auf der Nase ein Stück hinuntergerutscht war. Als er den Kopf wandte und sie ansah, blitzten die Gläser im Lampenlicht auf. Der Raum schien ein Sprung zu machen und gleich darauf wieder stillzustehen. »Was?« fragte er. »Sag bloß, es macht dir keinen Spaß, jede Woche Briefe an Mr. und Mrs. Jedermann zu schreiben.«
»Nein, ehrlich gesagt macht es mir keinen Spaß. Ich wollte, wir hätten gar nicht erst damit angefangen.«
Er schwieg für einen Augenblick. Die Ecke des Briefbogens, den er beschrieb, lag auf seinem Handrücken. »Es wird sich noch auszahlen«, sagte er dann. »Das weiß ich einfach.«
»Wie denn? Durch diesen Plunder, den sie uns schicken?«
»Das ist nicht alles Plunder. Die beiden Axtstiele konnte ich gut gebrauchen. Und denk nur an Pomo« – bei der Erwähnung seines Namens hob der Hund, der vor dem Kamin lag, seinen Kopf und ließ ihn wieder sinken – »und Fred den Raben.«
»Ich weiß, dass sie es gut meinen. Das ist es nicht. Aber sie haben ein Bild von uns, das nicht stimmt, das nicht echt ist.«
»Wir arbeiten nicht schwer? Wir lieben uns nicht? Wir haben nicht die intelligentesten, süßesten, schönsten Töchter der Welt?«
Sie lächelte. »Sie übertreiben alles, das meine ich. Wir sind nicht besonders, wir sind wie alle anderen. Wir haben wahrscheinlich nur mehr Glück gehabt.«
Er neigte den Kopf, um sie über die Brille hinweg zu betrachten. Sie sah, dass sein Haar weiß wurde, sie sah auch die Falten um seine Augen und was die Sonne in seinem Gesicht angerichtet hatte. War er alt? Wurde er langsam alt? Wenn es so war, dann galt dasselbe auch für sie, und wenn man alt war, musste man sich Gedanken darüber machen, was als nächstes kam. »Ja, Glück«, sagte er, »nur hat uns das bis jetzt keinen Cent eingebracht. Ich habe zwar ein paar Unis an der Hand, für eine Vortragsreise an der Ostküste – Saint Andrew’s, Saint Paul’s, Yale, Harvard, Princeton, nur die besten –, aber eine von denen muss fest zusagen, bevor ich auch nur daran denken kann, dorthin zu fahren. Und alles sagen dasselbe: Kein Geld, schlechte Zeiten, vielleicht im nächsten Semester ...«
Wieder ertönte das Nebelhorn, so laut, dass es war, als säßen sie auf dem Vordeck des Schiffes. »Dicke Suppe«, sagte Herbie.
»Hoffentlich laufen sie nicht auf Grund.«
»Werden sie nicht.«
Sie wollte ihn fragen, wie er da so sicher sein konnte, doch er lenkte sie ab, indem er einen Brief in die Hand nahm und ihn wie eine Fahne schwenkte. »Herrje«, sagte er, »das musst du dir ansehen.« Sie stand auf und ging zu ihm, und
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