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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nach Los Angeles zu fahren, geschweige denn nach New York, auf die Kanarischen Inseln, nach Gibraltar und zu östlicher gelegenen Häfen – Herbie war es bitter ernst, das bewies dieser Brief. Sie sagte nichts. Sie las den Brief, gab ihn ihm zurück und erklärte, es sei sehr gut, dass er daran gedacht habe, eine überaus noble Geste. George kam und nahm den Brief mit, und was sie betraf, war die Sache damit erledigt.
    Sie hatte, beide hatten genug zu tun, auch ohne sich Sorgen um eine mittelalterliche Gesellschaft zu machen, von der sie bis dahin kaum jemals gehört hatten, ein Kaiserreich noch dazu. Das Augenmerk der Welt wandte sich anderen Dingen zu. Herbie schrieb einen Brief nach dem anderen, an den Präsidenten, Will Rogers, Lewis B. Hershey und Father Coughlin, Briefe, in denen er dieses oder jenes guthieß oder kritisierte, je nachdem, was ihn gerade beschäftigte, und das Leben auf der Ranch ging weiter. Sie hatten jetzt mehr Besucher, und die Reporter hörten gar nicht mehr auf zu kommen – und natürlich hatten sowohl die Besucher als auch die Reporter Hunger, sie brauchten einen Platz zum Schlafen und beanspruchten einen immer größeren Teil der Zeit, die sie für andere Dinge benötigte, zum Beispiel für den Unterricht ihrer Töchter. Marianne und Betsy wuchsen heran und wurden in den Artikeln erwähnt, und so fragte man sich in manchen Kreisen, welche Qualität ihre schulische Ausbildung hatte und ob sie überhaupt unterrichtet wurden. Es kamen Briefe von diversen Spinnern, aber auch von pensionierten Lehrern und Professoren, die verschiedene Vorschläge machten, und schließlich erhielten sie ein amtliches Schreiben der Schulbehörde von Santa Barbara, in dem man sie daran erinnerte, dass alle Kinder ab dem Alter von fünf Jahren eine Schule besuchen müssten. Bis zu diesem Zeitpunkt – Marianne war sieben und Betsy noch nicht ganz fünf – hatte sie sich bemüht, die beiden wochentags am Küchentisch zu unterrichten: Sie ließ sie einfache Sätze aus den Kinderbüchern abschreiben, die ihre Mutter und verschiedene Freundinnen geschickt hatten, und brachte ihnen die Grundzüge von Arithmetik, Französisch und Geographie bei, aber angesichts der vielen Ablenkungen war das keine ideale Lösung.
    Als Herbie abends vom Hof ins Haus trat, zeigte sie ihm den Brief der Schulbehörde. Sie beobachtete sein Gesicht, während er ihn überflog und dann noch einmal genauer las. »Was meinst du dazu?« sagte sie schließlich. Warum war ihr plötzlich so schwummrig? Warum klopfte ihr Herz so stark? Es war ja noch nichts entschieden – es war nur ein Brief, sonst nichts. Eine Erkundigung. »Ich frage mich, ob wir sie aufs Festland schicken sollen – ich denke schon lange darüber nach, auch wenn ich mich regelrecht davor fürchte. Auf ein Internat, meine ich. Ich weiß zwar nicht, wie wir uns das leisten sollen, aber Tatsache ist, dass wir selbstsüchtig gewesen sind. Jawohl, selbstsüchtig – du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Wir haben an uns gedacht, aber nicht an die Mädchen – sie müssen in eine Schule gehen wie alle anderen Kinder.«
    »Was ist denn so schlimm daran, dass du sie selbst unterrichtest? Und ich kann ja auch helfen. Beim Lesen jedenfalls. Und in Mathematik. Und in Französisch, da auch.«
    »Das ist nicht dasselbe. Sie brauchen einen richtigen Lehrplan.«
    »Eher erschieße ich mich, als zuzulassen, dass die Mädchen von hier fortgebracht werden. Das würde mir das Herz brechen. Dir ebenfalls. Gib’s zu.«
    »Aber ich kann sie unter diesen Umständen nicht unterrichten, das weißt du. Der Topf steht auf dem Herd, der Hund und die Katzen wollen rein oder raus ... und jedesmal, wenn sie von ihren Büchern aufsehen – selbst Betsy, wenn sie vor einem Malbuch sitzt –, ist draußen irgendwas los. Ich kann sie nicht bei der Stange halten. Niemand könnte das.«
    »In den alten Zeiten«, sagte er und versuchte, einen Witz daraus zu machen, »gab es reisende Lehrer. Ichabod Crane, zum Beispiel. Vielleicht könnten wir ihn überreden, zu uns zu kommen. Ach nein, das geht nicht, er ist ja nur erfunden. Und außerdem müsste er inzwischen längst tot sein.«
    »Das ist kein Witz, Herbie. Es gibt Gesetze und Vorschriften. Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass wir als Eltern ungeeignet sind, und uns die Kinder wegnehmen. Und wollen wir denn nicht das Beste für sie? Wollen wir denn nicht, dass sie imstande sind, hinaus in die Welt zu gehen und ihren Platz darin zu finden? Eines Tages,

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