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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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in Schluchten und Flussbetten. Sand und Steine unter den Füßen. Der unerreichbare Horizont. Ein Feuer aus Zweigen und eine Dose Bohnen.
    »Einmal«, sagte er, »einmal ging’s mir richtig mies – das war vor zwei, drei Jahren, da hab ich San Pedro gelebt und konnte keine Arbeit finden, und meine Frau saß mir ständig im Genick, und dann hatte ich einen Unfall, bei dem ich mit einem Schlag sechzig Prozent der Sehfähigkeit auf einem Auge verloren hab, einfach so, zack. Damals hab ich ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich Schluss machen soll.«
    »Das kann ich nicht glauben«, sagte sie. »Sie? Sie sind einer der fröhlichsten Menschen, die ich kenne.«
    Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich hab mir sogar eine Pistole gekauft, eine . 38 er Special. Ich wollte es irgendwo in den Dünen tun, damit hinterher keiner die Schweinerei wegmachen muss und die Möwen den Rest erledigen. Aber ich hab’s nicht getan. Und dann lief es zwischen Marjorie und mir wieder besser, auch wenn das inzwischen leider vorbei ist, und dann hab ich diesen Job hier gekriegt ... Aber wartet, ich will euch was zeigen.«
    Er stand auf und ging hinaus. Als er zurückkehrte, hielt er etwas in der Hand, das in einen fleckigen Lappen gewickelt war. Er legte es auf den Couchtisch, damit sie es betrachten konnten, und schlug den Stoff zurück: Da lag die Pistole – blauschwarz, gedrungen, schimmernd von Öl. »Seit Jahren trage ich sie mit mir herum. Ich rede mir ein, dass ich sie zum Schutz habe, wenn ich irgendwo in der Wildnis bin, aber das ist Quatsch. Ich weiß genau, warum ich sie mir gekauft habe. Und ich will sie nicht mehr haben.« Er sah auf zu Herbie, der vollkommen reglos dasaß, als wäre jede Bewegung ein Vertrauensbruch.
    »Ich will sie dir schenken«, sagte Frank. »Für deine Sammlung. Ich weiß, es ist kein großes Geschenk, aber ... Sagen wir einfach: Ich will mich damit bei dir – bei euch beiden – dafür bedanken, dass ihr so freundlich zu mir seid und mich aufgenommen habt, als würde ich zur Familie gehören. Das bedeutet mir viel, wirklich sehr viel.«

DIE JAPANER
    An Halloween war Frank nicht mehr da, und so waren sie beim Essen – es gab Doughnuts und Cidre – unter sich. Nach dem Essen machten die Mädchen, die beide als Schneewittchen verkleidet waren, die Heldin des einzigen Films, den sie je gesehen hatten, Bekanntschaft mit bislang unbekannten Halloween-Bräuchen. Sie gingen auf die Veranda und klopften an die Türen, hinter denen Herbie Süßigkeiten deponiert hatte, und gerade als sie begriffen, wie das funktionierte, stürzte er, mit einem Bettlaken bedeckt, hervor und stampfte fuchtelnd und stöhnend auf sie zu. »Ich bin der Geist von Captain Waters«, rief er, während der Hund heulte und die Mädchen schrill kreischten, »und ich bin gekommen, um euch zu holen!« Sie selbst hatte sich mit einem Stück Holzkohle dunkle Augenringe gemalt und trat als die böse Königin auf, aber Herbie stahl ihr klar die Show.
    An Thanksgiving gab es Truthahn, den George fix und fertig vorbereitet hatte und mitsamt den anderen Zutaten einflog. »Den werden die Füchse jedenfalls nicht kriegen«, sagte er. »Leider habe ich allerdings, wie es scheint, die Gans um einen Spielkameraden gebracht, stimmt’s, Herbie?« Herbie schrieb die Speisenfolge auf, die mit »Selleriecremesuppe« begann und mit »Apfelkuchen, hausgebrautes Bier, Pfeife und Tabak« endete, und sie taten ihr Bestes, den Tag zu einem Festtag zu machen. Was Weihnachten betraf, so hatte keiner von ihnen Gelegenheit, viel darüber nachzudenken, denn am 7 . Dezember griffen die Japaner Pearl Harbor an, und danach war nichts mehr wie zuvor.
    Sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda, strickte und hörte eine Konzertübertragung. Es war Sonntag nachmittag, an einem Himmel wie aus geronnener Milch stand eine trübe Sonne, und die Temperatur war erträglich, denn es war windstill. Die Mädchen waren auf der Wiese und warfen den Ball für den Hund hin und her, dessen helles, begeistertes Bellen während der letzten zehn Minuten Beethovens 6 . Symphonie – »Die Pastorale« – begleitet hatte, und Herbie war am anderen Ende der Veranda und zerlegte die Uhr, die am Morgen plötzlich stehengeblieben war. Was war an diesem Szenario nicht in Ordnung? Nichts. Überhaupt nichts. Es war ein Bild der Ruhe und des tiefsten Friedens, ein weiterer Tag in einer langen Reihe: ihr Mann, ihre Familie, ihr Zuhause, der Himmel über ihr und die vertrauten Dielen unter ihren

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