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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Füßen. Und dann wurde das Konzert unterbrochen, die Stimme des Ansagers erklang, und mit einemmal war alles anders.
    Am nächsten Tag hörten sie die Rede des Präsidenten und versuchten zu verstehen, was geschehen war. Es war ein von langer Hand geplanter Überraschungsangriff gewesen, der japanische Botschafter war so falsch wie ein Dreidollarschein, und die Flotte des Kaisers hatte gleichzeitig Malaya, Hongkong, Guam, die Philippinen sowie die Stützpunkte auf den Wake- und Midway-Inseln angegriffen und stieß über den Pazifik nach Osten vor. Es erschien ihr unwirklich, wie die Radiosendung, die vor drei Jahren eine solche Panik ausgelöst hatte, nur dass die Angreifer diesmal nicht Marsmenschen, sondern Japaner waren.
    Herbie konnte nicht stillsitzen. Er drehte an der Senderjustierung. Ging auf und ab. Murmelte vor sich hin. Die ganze Zeit sprach der Präsident, unterlegt mit Brummen, Pfeifen und Rauschen: Es ist zu Kampfhandlungen gekommen. Wir können die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass unser Volk, unser Land und unsere Interessen ernsthaft bedroht sind . Sie versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, doch es war, als spräche der Präsident vom Boden eines großen Fasses, und jede Silbe hallte nach, bis sie nur noch das Wort »Kriegszustand« hörte, aber das war ja auch genug. Mehr als genug. Sie stand auf, trat zu Herbie, ihrer Stütze, ihrem Fels in der Brandung, und nahm seine Hand. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie ihn.
    »Was es zu bedeuten hat?« Sein Blick war wütend. Er war in den Krieg gezogen, der alle Kriege hatte beenden sollen, er hatte sein Blut, sein Fleisch und eineinhalb Jahre seines Lebens geopfert, und hier kam der nächste Krieg und trieb sie vor sich her, ob sie wollten oder nicht. »Dass sie versuchen werden, uns von hier zu evakuieren – das hat es zu bedeuten. Das ist genau der Vorwand, den sie gebraucht haben.«
    »Aber warum? Wir sind doch nicht in Gefahr, nicht hier draußen, oder?«
    »Die Pazifikflotte ist vernichtet, Elise, verstehst du das nicht? Zwischen uns und den Japsen steht nichts mehr. Und du kannst darauf wetten, dass die jetzt von Insel zu Insel hüpfen werden, bis sie Hawaii eingenommen haben, und dann werden sie uns und die ganze Westküste aufs Korn nehmen, und ohne Kriegsschiffe sind wir wehrlos.« Er drückte ihre Hand – zu fest, viel zu fest, fast als wüsste er nicht, was er tat – und ließ sie abrupt los. »Aber ich sage dir: Ich werde nicht von hier weggehen.«
    »Aber können die uns denn nicht zwingen?«
    Er sah sich mit wildem Blick um. Das Radio lief, sie hörten noch mehr statisches Rauschen, einen weiteren Ansager, weitere Berichte von Niederlagen, Hass und Angst. Er ging zum Apparat und schaltete ihn aus. Im nächsten Augenblick nahm er eines seiner Gewehre von der Wand, legte es an und zielte. »Ich weiß nicht, was die können oder nicht können«, sagte er. »Ich weiß gar nichts mehr.« Er lehnte das Gewehr an die Wand, nahm ein anderes und packte es mit beiden Händen. »Aber das sage ich dir: Ob Navy oder Japse – wenn sie kommen und uns drohen, kriegen sie es mit mir zu tun.«
    Es war ein trübseliges Weihnachtsfest. Alle Flugzeuge mussten am Boden bleiben, und das bedeutete, dass George weder einen Baum noch Lebensmittel oder die Geschenke bringen konnte, die sie für die Mädchen bestellt hatten (eine Schlagzeile, die sie erst Mitte Januar zu sehen bekam, lautete: »Startverbot für den Weihnachtsmann – Trauriges Weinachtsfest auf San Miguel«). Auch der Schiffsverkehr war eingeschränkt: Die Behörden sprachen eine allgemeine Blockade für die »westliche Kampfzone« aus, einen hundertfünfzig Meilen breiten und von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze reichenden Streifen vor der Küste. Niemand besuchte sie mehr, nicht mal die Vails, die denselben Bestimmungen unterlagen wie sie selbst. Es gab keine Post – keine Briefe von Freunden und Verwandten, keine Zeitungen oder Zeitschriften, keine Weihnachtskarten. Selbst der Wetterdienst stellte den Funkverkehr ein. Herbie schaffte es, einen Weihnachtskranz aus Eiskraut zu flechten, aber das Grün war viel zu hell, und innerhalb eines Tages verfärbte sich das ganze Ding gelb und sonderte eine farblose, klebrige Flüssigkeit ab, die in Rinnsalen an der Haustür herabrann und auf der Schwelle eine Pfütze bildete.
    Sie tat ihr Bestes, um ihren Töchtern Geschenke zu basteln – Stoffpuppen, Pappmachétiere, Halsketten aus Muscheln –, aber die

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