San Miguel: Roman (German Edition)
Der Sommer kam, gewaltig und statisch, und die Mädchen genossen ihre Ferien, streiften wie Indianer über die Insel und erfanden Spiele. Elise hatte das Radio, die Briefe ihrer Mutter und die Besuche von Freunden. Angesichts der internationalen Ereignisse hatte das Interesse der Presse an der Schweizer Familie Lester stark nachgelassen, und das war, in ihren Augen jedenfalls, ein Segen.
Im Herbst hatten sie ein paar sonnige Tage, beschert durch die warmen Winde, die von den Santa-Ynez-Bergen jenseits des Kanals herunterstrichen, Bergen, die man vom Hof aus plötzlich sehen konnte und die erschienen, wo wochenlang keine gewesen waren. In dieser Woche packte sie jeden Tag nach der Schule etwas zu essen, ein paar Handtücher und eine Decke ein und ging mit den Mädchen schwimmen. Herbie marschierte voran, und die Mädchen rannten die letzten hundert Meter zum Strand und kreischten vor Wonne. Herbie war ein guter Schwimmer und hatte beiden Mädchen Brustschwimmen und Marianne den Kraul- und den Schmetterlingsschlag beigebracht, aber sonst schwammen sie meist in kaltem Wasser und unter einem bedeckten Himmel, und so waren diese Tage ein echtes Geschenk, und sie nutzten sie, solange das Wetter hielt. Eines Nachmittgs – sie war gerade aus dem Wasser gekommen, alles geschah langsam und träge, die Mädchen gruben einander im Sand ein, und Herbie lag da, die Ellbogen aufgestützt, und las – erschien plötzlich die Hermes hinter der Landspitze im Osten und lief auf einem langen schimmernden Streifen aus Licht in die Bucht ein. »Sieh mal – da ist die Hermes «, sagte sie, als würde sie nur laut denken, und im nächsten Augenblick waren Herbie und die Mädchen auf den Beinen und winkten. »Aber das ist doch seltsam, nicht? Die sollte doch erst in drei, vier Tagen kommen.«
Sie standen am Spülsaum und sahen zu, wie das Boot vor Anker ging und ein paar bekannte Gesichter an der Reling erschienen. Die Mädchen hüpften auf der Stelle, spritzten mit Wasser und riefen unentwegt: »Die Hermes ! Die Hermes !« Alle waren sehr aufgeregt, und wenn sie mit einem Stirnrunzeln an das Abendessen dachte und überlegte, was sie für die Männer kochen – oder vielmehr zusammenkratzen – könnte, so war das ein sehr flüchtiger Gedanke. Sie winkte und grinste, und Herbie tat dasselbe. Sie winkten noch immer, als das Dingi zu Wasser gelassen wurde und die Ruderblätter aufblitzten. Das Sonnenlicht glänzte, die Wellen glitzerten, alles war in ständiger Bewegung. Sie erkannte den Matrosen an den Riemen, doch der Mann im Bug war ein Fremder, und es sah so aus, als käme er allein – dabei drängten sich doch sonst immer der Kapitän und mindestens zwei, drei andere in dem kleinen Boot, um ihnen einen Besuch abzustatten.
Das Rätsel wurde wenige Minuten später gelöst, als der Fremde aus dem Dingi sprang und dabei geschickt der nächsten Welle auswich, so dass seine Stiefel nicht einmal einen Spritzer abbekamen. Die Stiefel sahen übrigens genauso aus wie Herbies, und wie Herbie trug er eine kurze Hose. Er hatte einen Rucksack, ein Zelt und zwei Seesäcke aus Segeltuch dabei, und sie halfen ihm, die Sachen auf den Strand zu tragen. Und wer war er? Er hieß Frank Furlong und war Landmesser.
Herbies Gesicht verfinsterte sich. »Sind Sie etwa einer von diesen Landverwaltungsleuten? Ich dachte, ich hätte klar und deutlich gesagt – «
»Nein, nein, nein – ich bin Bauingenieur, spezialisiert auf abgelegene Landstriche. Ich bin am liebsten draußen, ich will nicht in irgendeinem Büro herumsitzen. Die Navy hat mich hergeschickt, damit ich zwei Stellen finde, wo man einen Leuchtturm errichten könnte. Aber ob die es bei dieser Wirtschaftslage je hinkriegen, ihn auch wirklich zu bauen, weiß der Himmel.« Während er das sagte, klopfte er seine Taschen ab, als suche er etwas: einzeln eingewickelte Karamelbonbons, die er den Mädchen feierlich überreichte, erst Betsy, dann Marianne. Die beiden starrten ihn an, als könnten sie nicht bis drei zählen.
»Ich höre nichts«, sagte Elise.
»Danke«, sagten die beiden im Chor.
»Gern geschehen, meine Damen. Und wenn eure Mutter und euer Vater es erlauben, werde ich später mal nachsehen, ob ich nicht irgendwo noch mehr Bonbons habe.«
Ohne einen Augenblick nachzudenken sagte sie: »Möchten Sie nicht mit uns zu Abend essen? Allerdings warne ich Sie – es ist nichts Raffiniertes – «
»Raffiniert? Ich würde was Raffiniertes nicht mal erkennen, wenn es kommen und mich beißen
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