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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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überzeugen, dass ihre Augen sie nicht trogen, und dann nahm sie Wills Fernglas vom Haken neben dem Fenster und drehte an den Okularen, bis das Schiff klar zu sehen war und sie erkennen konnte, dass Charlie Curner am Ruder stand und nicht irgendein japanischer Abalonensammler oder ein Wilderer, der ihnen, wenn sie nicht achtgaben, ein Schaf stahl.
    Ihr Puls raste. Sie sprang auf, das Buch fiel zu Boden, und dann war sie zur Tür hinaus, eilte die Treppe hinunter und verkündete die Nachricht. Die anderen ließen alles stehen und liegen – Ida kam mit bemehlten Händen aus der Küche, Edith legte den Zeigefinger als Lesezeichen in ihr Buch und rannte zur Vordertür hinaus, um es den Männern, die bereits das Werkzeug fallenließen, zuzurufen –, und es war, als wären sie nicht eineinhalb Wochen, sondern ein ganzes Jahr auf sich allein gestellt gewesen. Edith lief voraus mit rudernden Armen, der Nachmittag erglühte im Licht der Sonne, die sich wie ein Heißluftballon aus dem Dunst erhob, und auf den Absätzen von Ediths Schuhen glänzte eine dünne Schicht Matsch. Auch Marantha hatte es eilig. Sie dachte an die Briefe, die man ihr versprochen hatte – ihre Mutter in Boston, Carrie und die anderen in San Francisco –, und an ihr Geschirr und das Besteck und alles mögliche andere, das Charlie Curner vielleicht mitgebracht hatte und das die stumpfe Einförmigkeit der Tage aufhellen würde. Noch nicht einmal zwei Wochen, und es schien bereits so, als gäbe es nichts anderes, keine andere Welt, nur diese Insel. Selbst in diesem Augenblick, bei all der freudigen Erregung, wusste sie, dass sie nicht durchhalten würde, ganz gleich, was sie versprochen hatte und wie sehr sie sich bemühte.
    Auf halbem Weg hinunter ging ihr der Atem aus, und sie musste sich auf einen Stein setzen, während sich unter ihr, in der Bucht, die sich in die flache graue Ödnis des Ozeans öffnete, Charlie Curner in die Riemen legte und Edith am mit Muscheln markierten Spülsaum stand und ihr Taschentuch hoch über dem Kopf schwenkte. Sie sah die anderen winzig klein aus der Schlucht auftauchen, mit hüpfenden Köpfen und wiegenden Schultern, Will und Adolph zuletzt, während Ida und Jimmie vorausrannten und mit Edith in die Brandung gingen, um das Boot auf den Strand zu ziehen, als wöge es nichts. Alle waren sehr aufgeregt: Was hatte er mitgebracht? Welche Neuigkeiten? Hatte er an das Mehl, den Zucker, die Pickles gedacht, um die sie ihn in Ediths Namen besonders gebeten hatte? Die Gingham- und Kattunstoffe?
    Sie sah zu, wie sie das Boot entluden, und wünschte sich, sie hätte das Fernglas mitgenommen – sie konnte keine Einzelheiten erkennen, sosehr sie auch die Augen zusammenkniff. War das die Kiste, in die sie das Geschirr gepackt hatte? Sie war sich nicht sicher. Sie hätte alles dafür gegeben, dort unten bei ihnen zu sein und mit Edith um die Wette zu rennen, doch ihre Beine trugen sie nicht, sie bekam nicht genug Luft. Einst war sie eine gute Läuferin gewesen, das schnellste Mädchen in ihrer Schule, aber das war lange her. Vor James, vor Will. Vor dem ersten Hustenanfall.
    Sie sah, wie sie sich um die gestikulierende Gestalt von Charlie Curner versammelten, der ihnen die neuesten Nachrichten aus der Welt dort draußen brachte, in einer Pantomime, die sie nicht verstand, und mit Worten, die sie nicht hören konnte. Sie hoffte, dass er an Zeitungen gedacht hatte. Und Zeitschriften. Sie hatte ihm ausdrücklich aufgetragen ... Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Es reichte, wenn er das Geschirr mitgebracht hatte. Und die Briefe. Vor allem die Briefe. Sie ermahnte sich, ihre Hoffnungen zu zügeln, denn Charlie Curner war nicht ihr persönlicher Agent, sondern nur jemand, der für seine Dienste bezahlt wurde, und was das Aufnehmen von Bestellungen, das Liefern und besonders das Mitdenken betraf, war er keineswegs vollkommen. Nach einer Weile, lange bevor Jimmie den Weg hinaufgerannt kam, um das Maultier und den Schlitten zu holen, und die anderen die Kisten und Säcke und in braunes Papier eingeschlagenen Pakete auf den Strand trugen, erhob sie sich und ging mit gebeugtem Kopf und gemessenen Schritten wieder hinauf zum Haus, und dabei zählte sie ihre Atemzüge, als wären diese die einzigen Nachrichten von Bedeutung.
    Sie war die ganze Nacht auf, fühlte sich fiebrig, wollte es sich aber nicht eingestehen, ihr Husten war flach, aber beständig, und der Schmerz unter ihrem Brustbein etwas Stumpfes, Wiederkehrendes, das sie mit

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