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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schlau wie du.«
    »Wie kommt’s dann, dass du nicht weißt, wann du geboren bist?«
    »Meine Mutter ist tot. Und sie hat nie ... « Er scharrte mit der Stiefelspitze im Staub – seine typische Geste. »Ich meine, ich bin nie ... Ich bin achtzehn.«
    »Lügner.«
    Die Schweine beobachteten die beiden argwöhnisch. Die Sonne war wie in Gaze gewickelt. Die Spitzhacke erklang. Und dann zog Edith den Jungen zu sich heran, und ihre Köpfe waren einander so nah, als würden sie sich küssen. Marantha durchfuhr ein Schock. »Edith!« rief sie. Sie hörte nicht, was Edith sagte, doch sie hörte Jimmie. Seine Stimme war leise, aber deutlich zu verstehen, als er sich losmachte und linkisch einen Schritt zurückwich. »Na gut«, sagte er, »ich bin fünfzehn. Aber immer noch älter als du.«

DER REGEN
    Er kam in der Nacht und ohne Ankündigung, er stürzte unvermittelt und prasselnd auf das Schindeldach und schreckte sie aus einem traumlosen Schlaf. Zuerst dachte sie, es sei der Wind, ein weiterer Sandsturm, der sich über die Insel wälzte, um sie zu begraben wie Ozymandias, doch dann hörte sie das Gurgeln in den Regenrinnen und das Plätschern in den Tonnen und wusste, dass der wirkliche Regen, der Regen, auf den sie gewartet hatten, gekommen war. Ihr einziger Gedanke war, dass Will sich freuen würde – und sie selbst hätte sich ebenfalls freuen sollen, denn Regen war wie Geld auf der Bank, doch sie hasste die Feuchtigkeit, die er brachte, denn diese war eine Verbündete des Dings in ihrer Brust. Und des Schimmels, der sich wie eine biblische Plage über alles legte, was nicht ständig bewegt wurde. Die Möbel waren mit Schimmel gesprenkelt, Kleider fühlten sich einen Tag nach dem Waschen schmutzig an, das Papier ihrer Bücher war fleckig und schmutzig, sie wurden von innen zerfressen, verrotteten und zerfielen. Aber solche Gedanken durfte sie nicht haben. Der Regen war wichtig, der Regen war ein Segen. Sie sprach es laut aus, als wollte sie sich selbst überzeugen, doch ihre Stimme war ein ersterbendes Flüstern im Dunkeln und ging im Rauschen des Regens unter. Lange lag sie da und lauschte auf das Plätschern in den Rinnen, alles trieb dahin, bis schließlich auch ihre Gedanken davontrieben und sie wieder einschlief.
    Sie erwachte von einem beständigen Tropfen. Es dauerte einen Augenblick, es brauchte einen schmalen Streifen mattes graues Licht, das durch einen Spalt im Bettvorhang fiel und die Welt mit ihren gewohnten Gegebenheiten zurückkehren ließ, doch dann stellte sie fest, dass die Decken nass waren – nicht feucht, sondern tropfnass. Ein Blick nach oben zeigte ihr, dass der Betthimmel ebenfalls nass war, und da kam der Tropfen und spritzte auf das Kissen neben ihr. Und noch einer und noch einer. Sie rief Wills Namen, zweimal, aber er rührte sich nicht, sein Atem ging tief und langsam. Sie rüttelte ihn, sie zog und zerrte an ihm, bis er schließlich erwachte, hustend und spuckend, als wäre das Wasser bereits über ihnen zusammengeschlagen.
    »Was ist? Was?«
    »Das Dach ist undicht.«
    »Wie meinst du das?«
    Plötzlich wütend, fuchsteufelswild, zog sie den Bettvorhang zurück und hob die nassen Decken hoch. »Das Bett ist nass – so meine ich das. Merkst du das denn nicht? Das ganze Bett – « Sie schnappte nach Luft, und das erste bellende Husten dieses Morgens riss ihr die Worte aus dem Mund.
    Und was tat er? Nahm er sie in die Arme, holte er ihr ein Glas Wasser oder die Medizinflasche und ihren Teelöffel? Nein. Er fluchte – wie nicht anders zu erwarten, als hätte Gott im Himmel irgend etwas damit zu tun –, sprang aus dem Bett, stampfte im Zimmer herum und zog sich mit hasserfüllt heftigen Bewegungen an. »Herrgott noch mal, kann ich nicht eine Minute Ruhe haben? Kann ich nicht mal eine Nacht durchschlafen, wenn ich so müde bin, dass ich kaum noch – Edith! Wo ist Edith?«
    »Lass sie schlafen«, sagte sie und kämpfte gegen den Husten an. Sie war ebenfalls aufgestanden und ging im Nachthemd zum Waschtisch, auf dem der Krug und ihre Medizin standen, und auch hier regnete es durch: Bräunliches Wasser rann in einem dünnen Strahl auf den Boden und bildete eine Pfütze. Die Medizin war nutzlos, das wusste sie, aber sie betäubte das Brennen in der Kehle und dämpfte den Schmerz in der Brust, wenigstens für eine Weile. Sie nahm einen Teelöffel voll und verzog das Gesicht – es war ein alkoholischer Extrakt aus bitteren Kräutern, die ihre Mundhöhle schwarz färbten –, und dann nahm

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