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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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von Wills Spitzhacke. Und da war der Wind, natürlich der Wind. »Was tust du da?« wollte sie wissen, doch ihre Stimme hatte das Timbre verloren und klang nicht wie eine menschliche Stimme, sondern wie das Krächzen eines Vogels.
    »Ma’am?«
    »Dieses Geschrei. Lass die Tiere in Ruhe. Du solltest dich schämen.«
    Er war etwa dreißig Meter entfernt. Die Schweine – es waren sechs: ein Eber, zwei Sauen und drei Ferkel aus dem letzten Wurf – waren vor ihm zurückgewichen und drängten sich in einer Ecke des Kobens zusammen. »Befehl vom Captain, Ma’am. Er hat gesagt, ich soll ihnen Ringe durch die Nasen ziehen, damit sie nicht alles aufwühlen.«
    Sie war zornig, schwach, bleich, sie hatte praktisch nichts an und hustete und hustete. Ein Schatten legte sich über ihre Augen. Das war die Krankheit, die ihre Zunge lähmte und ihre Kehle mit Schleim füllte, so dass sie glaubte zu ersticken. Der Junge wusste das nicht. Es war ihm gleichgültig. Er drehte sich um und machte sich wieder an die Arbeit. Schließlich würgte sie einen harten Klumpen Auswurf hervor, der sich anfühlte wie ein vom Fleisch geschnittenes Stück Knorpel, spuckte es in das Taschentuch und schloss die Faust darum, bis ihre Stimme zurückkehrte. »Es ist mir egal, was Captain Waters gesagt hat – du lässt sofort die Tiere in Ruhe, hast du verstanden?« Ob er sie gehört hatte oder nicht, konnte sie nicht sagen, aber schon wieder schrie eins der Schweine.
    Sie schlug das Fenster zu, ging zur Tür und rief die Treppe hinunter nach Edith. Nach Edith, die hinausgehen und diesem Jungen die Meinung sagen und ihn dazu bringen würde, mit dieser Unverschämtheit, mit dieser Grausamkeit aufzuhören, doch wieder versagte ihre Stimme. »Edith«, rief sie, nein, krächzte sie, denn die Krankheit zehrte sie von innen auf, würgte sie und nahm ihr die Stimme, eine Silbe nach der anderen. »Edith!«
    Es verging ein Moment. Dann stand Edith am Fuß der Treppe, und in den Schatten, die dieses Haus bewohnten, war ihr Gesicht blass und körperlos. »Ja, Mutter?«
    Sie bekam kaum Luft.
    »Bist du –? Kann ich dir etwas bringen?«
    »Sag dem Jungen« – und da ertönte schon wieder dieses schreckliche, durchdringende Schreien –, »er soll augenblicklich damit aufhören. Ich bin nicht ... Ich brauche Ruhe. Heute. Nur für heute. Sag ihm – «
    Sie sah, wie Edith sich abrupt umdrehte, hörte ihre Schritte auf den abgetretenen Dielen des Flurs und des Salons, hörte, wie die Tür quietschend geöffnet und wieder geschlossen wurde. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Edith erschien auf dem Vorplatz.
    »Mutter sagt, du sollst sofort aufhören. He, Jimmie. Mutter sagt – «
    Der Junge ließ sein Werkzeug fallen – was war das eigentlich, eine Art Zange, um den harten Metallring durch das Fleisch zu ziehen? – und starrte sie mit seinen schwarzen, ausdruckslosen Augen an. »Der Captain hat’s aber gesagt.«
    Edith ging auf ihn zu. Selbst von dort, wo sie war, konnte Marantha sehen, dass sie ihr Korsett schon wieder nicht geschnürt hatte. Sie hatte eine Schürze umgebunden. Das Haar fiel zerzaust über ihren Rücken, weil sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, es aufzustecken. Sie trug keinen Hut. »Ist mir egal, was er gesagt hat. Mutter fühlt sich nicht wohl, und du sollst sofort damit aufhören.«
    »Du hast mir gar nichts zu sagen.«
    »Habe ich eben doch.« Edith stemmte die Hände in die Hüften und verlagerte das Gewicht auf ein Bein, als wollte sie einen Tanzschritt machen. Dann hob sie langsam eine Hand und winkte ihm mit dem Zeigefinger. »Komm her«, sagte sie.
    Der Junge sah sich um, ob jemand sie beobachtete. Dann stieß er das Tor des Kobens auf, trat heraus, schloss es wieder und ging zu Edith. »Was willst du von mir?« fragte er und sah ihr zum erstenmal ins Gesicht.
    Sie sprach so leise, dass Marantha sie kaum verstehen konnte. »Alles, wonach mir ist«, sagte sie.
    Er trat einen Schritt zurück und schlug die Augen nieder. »Du hast mir nichts zu sagen«, wiederholte er. »Du bist erst vierzehn.«
    »Fünfzehn. In eineinhalb Wochen. Älter als du.«
    »Ich bin neunzehn.«
    »Lügner.«
    Kurzes Schweigen. Aus der Ferne hörte Marantha noch immer das Klingen der Spitzhacke: gehärteter Stahl, der auf Felsen traf. »Dann eben achtzehn.«
    »Lügner. Wann ist dein Geburtstag?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Wie kann man seinen eigenen Geburtstag nicht wissen? Bist du so dumm?«
    »Ich bin nicht dumm. Ich bin so schlau wie jeder andere. So

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