San Miguel: Roman (German Edition)
unzähligen Tassen heißem Tee mit Milch sowie der Patentmedizin vertrieb, die – da brauchte sie sich gar nichts vorzumachen – zu vierzig Prozent aus Alkohol bestand. Sie hatte den Salon für sich allein, es war kein Geräusch zu hören außer dem Ticken des gusseisernen Ofens und dem Rascheln der Mäuse bei ihren nächtlichen Streifzügen durch den Küchenschrank – ach, wie sehr sie sich wünschte, Sampan wäre da, nicht nur, um diesen Nagern die Furcht vor Vergeltung einzuflößen, sondern auch, um seine Wärme auf ihrem Schoß zu spüren und und das sanfte, dankbare Pulsieren seines Schnurrens zu hören, wenn sie ihn hinter den Ohren kraulte und über das daunenweiche, schokoladenbraune Fell an Kopf, Schwanz und Pfoten strich. Sie hatte alle Briefe zweimal gelesen – zwei von ihrer Mutter, die fast ausschließlich aus Berichten über das Wetter und diverse Beerdigungen bestanden ( Wie ich Dich beneide, im sonnigen Kalifornien, denn hier war der Winter so kalt wie seit den Zeiten Deiner Großmutter nicht mehr ), einen von ihrer Cousine Martha in Brookline und jeweils einen von Carrie Abbott und Susannah Kent in San Francisco –, und nun war sie damit beschäftigt, sie zu beantworten. Charlie Curner – mit großem Missfallen hatte sie die Blicke bemerkt, die er, ein verheirateter Mann von Vierzig, mindestens Vierzig, Edith beim Abendessen zugeworfen hatte – schlief in seiner Koje an Bord des Schoners, den er nach seiner Frau benannt hatte, und würde nach dem Frühstück Segel setzen, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Briefe jetzt zu schreiben und zu adressieren. Entweder das oder Gott weiß wie lange zu warten.
Sie saß noch immer auf dem Stuhl am Ofen, als der Himmel vor dem Fenster heller wurde. Sie hatte zweiundzwanzig Seiten an ihre Mutter geschrieben, und jede einzelne Zeile war so sonnig wie – laut ihrer Mutter – das Wetter hier. Gesundheitlich ging es ihr gut, die Luft war erfrischend, Will arbeitete für zehn, damit ihre Investition etwas abwarf, und Edith wuchs zu einer hübschen jungen Frau heran, die nicht nur Klavier spielen und wie ein Engel singen und tanzen, sondern auch reiten konnte, und zwar so gut wie nur irgendeine Frau im ganzen Land, mit Ausnahme vielleicht von – und jetzt kam ihr Witz – Annie Oakley. Carrie gegenüber war sie offener, wenn auch nicht ganz aufrichtig, und wenn sie sich über das Wetter beklagte oder über die Schwierigkeiten, in einer so wilden Gegend einen Haushalt zu führen, dann klang sie auch in diesem Brief tapfer, als wäre das alles – der Schmutz, die Kälte, die nackten Dielenbretter und der lähmende Schmerz in ihrer Brust – mit einem Fingerschnippen zu beheben. Als sie hörte, dass Ida wach war, verschloss sie die Umschläge und ließ sie auf dem Tisch liegen, wo sie gewiss bemerkt werden würden. Dann schlich sie auf Zehenspitzen hinauf und schlüpfte zu Will ins Bett.
Als sie erwachte, war das Bett leer, und es ertönte ein unvermitteltes gellendes Geschrei, das sie durchfuhr wie ein Stromstoß. Eben noch war sie in einem Traum geschwebt (wieder die Trauben, die Hauswand, die Sonne), und im nächsten Augenblick schreckte sie hoch von diesem Schrei, diesen Schreien, die dicht aufeinanderfolgten, als würden sämtlichen Mitgliedern des Indianerstamms, der einst hier gelebt hatte, nacheinander die Kehle durchgeschnitten. Für kurze Zeit wusste sie nicht, wo sie war: Die Bettvorhänge waren wie die Wände einer Gruft, das Licht war dämmrig, die Luft kalt und feucht und erfüllt vom Geruch ihres Atems, und dann musste sie husten und versuchte zugleich, gegen das Ding in ihrer Brust anzukämpfen und die Vorhänge zurückzuziehen, so dass die Welt, in der sie jetzt lebte, sichtbar wurde, eine Welt, die aus kahlen Wänden, dem Waschtisch, dem gesprungenen Porzellantopf und dem wasserfleckigen Schrank bestand. Und die ganze Zeit hörte das Geschrei nicht auf, sondern steigerte sich noch, bis es ein Kreischen reiner, durch nichts zu besänftigender Empörung war.
Hustend schloss sie mit der Hand den Kragen des Nachthemds und trat an das Fenster, und da war Jimmie und stand in dem Schweinekoben auf dem Vorplatz. Er machte irgend etwas mit den Tieren, er quälte sie – und Marantha –, und ohne einen weiteren Gedanken stieß sie das Fenster auf und rief seinen Namen. Er sah verwirrt zu ihr hoch. Es war zwei Uhr nachmittags. Der Schoner war verschwunden. Irgendwo auf dem Weg, aus dem eine Straße werden sollte, ertönte das Klirren
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