San Miguel: Roman (German Edition)
sie, errichtete eine massive graue Mauer vor den Fenstern, eine weitere Barriere zwischen ihr und dem Ort, wonach sie sich sehnte.
Es war nach vier Uhr, als Will endlich aufgab. Auf der vorderen Veranda ertönten zwei abrupte dumpfe Schläge – einer für jeden Stiefel –, und dann trat er auf Strümpfen durch die Tür. Sein nasser Regenmantel sah aus wie eine abgestreifte Haut, er ließ erschöpft Kopf und Schultern hängen. Er wirkte niedergeschlagen, alt – älter als ihr Vater bei seinem Tod. Dieser Gedanke – ihr Vater war beinahe siebzig gewesen, hatte jahrelang an einer Krankheit gelitten, die niemand hatte diagnostizieren können, und all seine Energie darauf gerichtet, am Leben zu bleiben – komplizierte den Augenblick, und sie musste ihn unterdrücken, bevor sie von ihrem Stuhl aufstand und zu Will eilte. »Komm«, sagte sie und griff nach seinem nassen Ärmel, »ich helf dir.«
Er leistete keinen Widerstand. Er stand einfach da, tropfnass und so entkräftet, dass er kaum die Arme heben konnte. Er roch nach Wildnis, nach körperlicher Anstrengung, nassem Haar und altem Schweiß – und nach Teer. Es war ein Geruch, so stark und süß wie irgendein Parfüm. Seine Hände waren schwarz von Teer, als wäre er unterwegs zu einer Beerdigung und hätte Trauerhandschuhe angezogen. »Ich hab getan, was ich konnte«, sagte er.
»Mach dir jetzt keine Sorgen, wir werden schon zurechtkommen.« Sie legte den Regenmantel über einen Arm und führte ihn zum Ofen, wo er sich schwer auf den Stuhl fallen ließ. »Ich bringe dir trockene Kleider – und Tee, ich werde Ida Tee machen lassen. Oder möchtest du lieber etwas Stärkeres?«
»Einen Schluck Whiskey. Wenn du auch einen trinkst. Willst du?«
Ihr erster Impuls war, nein zu sagen, denn sie war doch nur noch eine missmutige, kränkliche Frau, die zu allem nein sagte, zu jedem Genuss, jedem Vergnügen, ganz gleich, wie klein und bedeutungslos. Whiskey. Sie hatte so lange keinen getrunken, dass sie sich gar nicht erinnern konnte, wie er schmeckte – doch dann, mit einemmal, wusste sie es wieder. Früher, in der ersten Zeit in der Wohnung, als Edith noch klein gewesen war und das Licht der Abendsonne in Streifen auf den Wänden gelegen und ihre Geranien beschienen hatte, so dass es gewesen war, als leuchtete jede Blüte, jedes Blatt von innen, hatte sie, wenn Will von der Arbeit nach Hause gekommen war, die Flasche und den Siphon geholt, und dann hatten sie am Fenster gesessen, Whiskey Sodas getrunken und dem Treiben auf der Straße zugeschaut. Sie lächelte und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ja«, sagte sie leise, »ich möchte auch einen.«
Eine Stunde lang saßen sie da, nur sie beide, und sie spürte, wie sich ein großer Frieden über das Haus senkte. Es regnete unvermindert weiter, doch das Tropfen ließ nach, denn der Teer dichtete das Dach ab – mehr oder weniger –, und sie ließ die Ofentür offen, so dass sie den Flammen zusehen konnten. Ida bereitete in der Küche das Abendessen zu, Edith hatte sich noch immer in ihrem Zimmer verkrochen, die Arbeiter waren in ihrer Baracke, durch deren Fenster sie den schwachen Schimmer der Laterne sehen konnte – es war, als wäre sie auf hoher See, und das Licht wäre das eines Leuchtturms. Als es dunkel wurde, stand sie nicht auf, um die Lampe auf dem Tisch zu entzünden.
»Das ist schön, nicht?« sagte sie. »So zu sitzen. Es ist alles so schnell gegangen.«
»Ich weiß«, sagte er, »ich weiß. Aber jetzt wird alles besser. Ich habe das Gefühl, dass es vorangeht, besonders mit dem Weg. Jedenfalls ging es voran, bis dieser verdammte Regen gekommen ist.«
Der Whiskey linderte das Brennen in der Kehle. Sie hatte gedacht, er würde es verschlimmern, doch er war im Gegenteil seidig und kühlend und hatte dieselbe beruhigende Wirkung wie ihre Medizin, nur dass er viel besser schmeckte. Und ihre Zunge nicht schwarz färbte. Das hoffte sie jedenfalls. »Verdammt?« Sie warf ihm das Wort zu, aber leicht, spielerisch, denn sie fühlte sich gut und wollte ihn nicht kritisieren – aber wie konnte etwas, das keine Seele besaß, ein Element noch dazu, verdammt sein?
»Ich sage ja nicht, dass wir nicht dankbar sein sollten für den Regen. Er ist genau das, was wir brauchen, damit es den Tieren gutgeht, und er wird die Regentonnen füllen und die Quelle sprudeln lassen, und das ist gut. Allerdings hatte ich nicht erwartet, dass er so plötzlich kommt, ich dachte an einen sanften Regen, der alles tränkt
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