San Miguel: Roman (German Edition)
mit Wasserspülung haben wie alle anderen? Eine Toilette mit einer Tür, die man abschließen konnte, mit einem gekachelten Boden und einem Waschbecken, an dem man sich die Hände waschen konnte. Sie hielt inne und schnupperte, aber der Nebel lag wie ein feuchtes Tuch auf ihrem Gesicht, und sie nahm lediglich den vertrauten Geruch nach Fäulnis wahr, der vom Meer herauftrieb. Dann blieb sie stehen. Stand ganz still. Lauschte. Nichts, kein Geräusch, nicht einmal das monotone Gebrüll der Robben.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war, im Bauch diesen unerträglichen Druck, die eng zusammengerollte Zeitschrift in der Hand. Schließlich gab sie auf. Es war wie in jener Nacht im Schlafzimmer, in der Nacht mit dem Lamm, als sie den Nachttopf endlich gefunden hatte, doch hier war kein Nachttopf, keine Toilette, nichts als Erde und Gras und der Nebel, der ihr die Luft nahm, bis sie unvermittelt und bevor sie dagegen ankämpfen konnte zu husten begann. Elend und schamerfüllt raffte sie ihre Röcke, hockte sich hin, als wäre sie irgendein Tier, und erleichterte sich.
Nichts als Gras, um sich damit zu säubern. Alles nass, kalt, schmutzig. Sie riss eine Seite aus der Zeitschrift, aber auch das Papier war schmutzig, und als sie damit ihre Haut, ihr Geschlecht berührte, durchfuhr es sie wie ein elektrischer Schlag. Sie stand auf und sammelte sich. Wie hatte es nur soweit kommen können, zu dieser Demütigung, dieser Barbarei? War es dies, was Sterbende durchleiden mussten: dass sie aus dem gelebten, dem lebenswerten Leben herausgerissen wurden? Dass sie entwurzelt wurden? Das würde ihre Grabinschrift sein: Marantha Scott Waters, 1850–18-? Entwurzelt .
Ihr war kalt. Sie hustete und konnte nicht mehr aufhören, der Anfall kam so plötzlich, so heftig, dass ihr keine Zeit blieb, sich ihm entgegenzustemmen, und wohin mit dem Auswurf? Auf den Boden. Auf die schmutzige Erde. Und warum auch nicht? Für dieses Privileg hatte sie immerhin zehntausend Dollar bezahlt.
Sie spuckte aus und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Sie konnte nicht den Atem anhalten. Der Husten wollte nicht aufhören, ein Hustenanfall folgte auf den anderen wie ein Stein, der von einer Klippe stürzte. Sie sank auf der nassen Erde in die Knie und hämmerte an ihr Brustbein. Was hatte Dr. Erringer ihr gesagt? Dass Phthisispatienten wie sie (er bezeichnete seine Patienten nie, niemals als Schwindsüchtige, denn das würde der Krankheit zuviel Macht einräumen) häufig auf vollständige Genesung hoffen durften, sofern sie ein ruhiges Leben führten, in maßvollem Umfang Leibesübungen betrieben und vor allem frische, reine Landluft atmeten. Ja, und wo war er jetzt? Er saß in seinem Sprechzimmer am Kamin und hatte die Füße auf das bestickte Polster des Fußschemels gelegt, hinter ihm schimmerte der warme Glanz der Wandtäfelung, und alles, was er sich nur wünschen konnte, zauberte ein Druck auf den Klingelknopf herbei: ein Sandwich, ein Steak, einen Becher warmer Cider, eine Arzthelferin, die kam und ihm nach einem langen Tag die Schultern massierte, wenn er einen Patienten nach dem anderen mit Lächeln, Versprechungen und Elixieren entlassen hatte, die nur bewirkten, dass man sich bereits wie tot fühlte. Morphia. Morpheus. Schlaf und Poesie.
Als Ida sie fand – »Mrs. Waters? Ma’am? Sind Sie da draußen?« –, lag sie im Gras wie ein zerbrochener Schirm. Sie war durchgefroren und hustete so heftig, dass es sich anfühlte, als würde ihr die Lunge herausgerissen. Wieviel Zeit vergangen war, konnte sie nicht sagen – sie war woanders gewesen, in den Armen ihrer Mutter, sie war unterwegs zum Drugstore auf dem mit Sonnenflecken gesprenkelten Bürgersteig mit ihrer Schwester um die Wette gerannt, sie hatte aus der Offenbarung des Johannes vorgelesen (»Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein«), während ihre Mutter und der Pfarrer sie angesehen hatten, als hätte sie sich soeben einen Platz im Paradies verdient –, doch ihr war, als hätte sie Ida schon stundenlang rufen hören. Sie versuchte zu antworten und um Hilfe zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie hatte Dr. Erringer davon erzählt, von der Heiserkeit und Schwäche ihrer Stimme und davon, dass sie im entscheidenden Augenblick versagte, und er hatte knapp genickt. »Kein Grund zur Sorge«, hatte er gesagt. »Das ist nur ein Symptom, von dem praktisch alle Phthisispatienten mehr oder weniger stark betroffen
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