San Miguel: Roman (German Edition)
ihre eigene Stimme zu hören, was liest du gerade? Und dann sah Edith von ihrem Buch auf und sagte: Nichts. Einen Roman.
Sie erhob sich und ging zum Tisch, wo Ediths augenblickliche Lektüre lag, das Buch, das sie vor dem Umzug vom Festland unbedingt hatte kaufen wollen. Müßig nahm Marantha es in die Hand. Der Autor hieß E.R. Roe, ein Name, der ihr ihr irgendwie bekannt vorkam. Vermutlich leichte Lektüre. Harmlos. Der Autor hatte zu diesem seinem vierten Roman ein Vorwort geschrieben, das sich eher wie eine Reklame las. Ihr Blick fiel auf die letzten Zeilen: »Selbst der Abgestumpfteste und Lebensmüdeste unter uns könnte neuen Schwung verspüren und neue Hoffnung schöpfen, gäbe es in seinem Haus ein so schlichtes, wahrhaftiges Wesen wie meine Heldin, und ich bin der festen Überzeugung, dass das traute Heim die Sphäre ist, in der die Frau am besten die Welt lenken und erretten kann.«
Die Welt lenken und erretten . Sie klappte das Buch zu und legte es wieder auf den Tisch. Mit einemmal war sie wütend. Wenn sie doch nur in San Francisco geblieben wären. Wenn sie sich doch nur gewehrt hätte. Lenken? Sie lenkte nichts. Und was die Errettung der Welt betraf, so würde sie alles, was sie hatte, dafür geben, sich selbst zu erretten, schon um Ediths willen, denn was sollte ohne sie aus ihr werden?
Irgend etwas ließ sie aufblicken, ein sechster Sinn, und ihr stockte der Atem: Vor dem Fenster war ein Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der sie anstarrte. Zu Hause, in ihrer Wohnung oder auch in dem gemieteten Haus in Santa Barbara wäre sie nicht so erschrocken. Der Mann – es war ein Chinese, wie sie jetzt sah, ein Chinese, der etwas ans Fenster hielt wie eine Gabe – wäre ein Laufbursche von der Wäscherei oder ein Gärtner oder dergleichen gewesen, und Will hätte sich darum gekümmert. Doch hier war sein Erscheinen so unerwartet, so unmöglich , dass er wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt war, und das jagte ihr einen Schreck ein. Sie rührte sich nicht. Hielt den Atem an. Stand einfach da und stierte wie ein Tier im Zoo.
Sein Blick war auf sie gerichtet. Er hob die Hand, tippte mit dem Zeigefinger ganz sanft und höflich an die Fensterscheibe und schüttelte das Ding – das Zeug –, das er in der anderen Hand hielt. Braune, flache Scheiben, die auf ein Stück Draht gefädelt waren. Was war es? In Streifen geschnittenes Fleisch? Irgendeine Art von Fisch? Plötzlich lächelte er, die Augen verschwanden fast in den Falten, sein Gesicht war freundlich und hoffnungsvoll. Ihr dämmerte, dass er harmlos war, ein Schiffbrüchiger, ein Überlebender, ein Mensch in Not, hungrig und durstig vielleicht, möglicherweise sogar verletzt. Sie ging zur Tür, öffnete sie und trat auf die Veranda.
Das Grinsen des Mannes wurde breiter. Er machte eine kleine Verbeugung. Er war klein, kleiner als sie, und trug eine bestickte Kappe und eine seidene Tunika über einer gewöhnlichen Hose aus grobem Baumwollstoff. Er hatte das Haar zu einem Zopf geflochten. Die Gummistiefel waren mit Resten irgendwelcher Meerestiere verschmiert. »Bao yu« , sagte er und bot ihr das braune Zeug dar.
»Sind Sie durstig?« fragte sie. »Hungrig? Ist Ihr Schiff untergegangen?«
»Bao yu« , wiederholte er. »Du nehm.«
Er reichte ihr die Drahtschlinge, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sie zu nehmen. Was sie da in der Hand hielt – und es war schwerer, als sie gedacht hatte –, waren getrocknete Abalonen, ja, das war es, und dieser Mann war einer der Kulis, von denen Will ihr erzählt hatte: Männer, die auf den unbewohnten Inseln vor der Pazifikküste abgesetzt wurden, wo sie monatelang in primitiven Hütten hausten und Abalonen sammelten, kochten, flachklopften und trockneten, bevor diese dann nach China gebracht wurden. Da stand er und schenkte ihr Abalonen, die sie gar nicht wollte und die wahrscheinlich von der Küste dieser Insel stammten, von ihrem Privatbesitz. Gestohlene Abalonen. Er musterte sie. Dies war kein Geschenk – er wollte eine Gegenleistung.
»Du gib«, sagte er.
Sie fühlte sich jetzt nicht mehr so großzügig. »Woher haben Sie die?« wollte sie wissen und stellte sich irgendeinen verborgenen Lagerplatz vor, eine Verunstaltung der Insel, eine offene Wunde.
Er hob, noch immer lächelnd, das Kinn und warf einen Blick auf die Bucht. Dort war ein Boot – wie hatte sie das nur übersehen können? Sein Boot. Eine breite Dschunke mit tiefliegendem Deck und eingeholten Segeln. Auf dem mittleren Mast wehte
Weitere Kostenlose Bücher