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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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eine dreieckige, roteingefasste Fahne in der Brise. Sie hatte solche Boote im Hafen von San Francisco gesehen, Boote, die chinesische Waren und Gewürze und die Kulis brachten, die Eisenbahnschienen verlegten und übereinandergestapelt in der Grant Avenue hausten, als wäre es ihnen am liebsten so. Abermals wunderte sie sich: War dieser Mann tatsächlich den ganzen weiten Weg über den Ozean von China hierhergekommen, um auf der Veranda ihres sogenannten Hauses zu stehen und mit ihr zu feilschen? Der Gedanke war schwindelerregend. Nein, er war komisch, grotesk. Was besaß sie denn schon, das er würde haben wollen?
    » Was soll ich geben?« fragte sie. »Was wollen Sie?«
    »Du geb Fleisch«, sagte er, und da wurde ihr alles klar. Er wollte Hammelfleisch, Lammfleisch, natürlich. Wenn man nichts als Fisch aß, dreimal am Tag, wollte man etwas anderes, irgendwas, besonders aber Fleisch – aber ihr dafür Abalonen, obendrein getrocknete, anzubieten, wo es die hier doch im Überfluss gab, war lachhaft. Und er wollte dafür tatsächlich Lammfleisch haben?
    »Nein, ich geb kein Fleisch«, sagte sie und übernahm unwillkürlich seine verstümmelte Syntax. »Und ich danke Ihnen hierfür« – sie versuchte, ihm die getrockneten Abalonen zu geben, doch er wich einen Schritt zurück, steckte die Hände in die Taschen und schüttelte den Kopf –, »aber ich fürchte, wir haben keine Verwendung dafür.« Er machte große Augen, und das Lächeln war verschwunden. »Sehen Sie«, begann sie und wollte ihm gerade erklären, dass sie so viele frische Abalonen hatten, wie sie wollten, dass diese Abalonen und das Land, auf dem er gerade stand, ihnen gehörten und dass er als Besucher willkommen war und sie ihm gern eine Tasse Tee und etwas Maisbrot oder auch ein paar der Plätzchen anbieten würde, die Ida am Morgen gebacken hatte, dass sie aber keine Tauschgeschäfte mit ihm machen würde, schon gar nicht um Fleisch, denn das brauchten sie selbst, zum eigenen Nutzen, für ihren eigenen Gewinn, ihr eigenes Wohlergehen, als sie erschrocken eine Bewegung am Tor bemerkte: Dort war ein zweiter Chinese aufgetaucht, genauso gekleidet wie der erste, und auch er hielt eine Kette aus getrockneten Abalonen in der Hand. Er war älter, viel älter, an seinem Kinn hing ein langer weißer Bart, und er kam über den Hof auf sie zu. In der Hoffnung auf Futter rannten die Hühner herbei, zerstreuten sich aber ebenso rasch wieder, als sie ihren Irrtum erkannten. Auch er lächelte.
    »Nein«, sagte sie und hob abwehrend die Hand, damit er stehenblieb, als beide Männer den Kopf in Richtung des donnernden Hufgetrappels wandten, das vom Weg her erklang. Im nächsten Augenblick kam Will, umwirbelt von fliegenden Erdbröckchen, auf den Hof galoppiert. Der zweite Chinese blieb wie angewurzelt stehen. Will ritt Mike, das Pferd, auf dem beim Aufbruch Edith gesessen hatte, und das erste, was ihr durch den Kopf schoss, war, dass Edith verletzt war, dass sie abgeworfen worden war und sich den Arm oder das Bein gebrochen hatte – oder vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung, vielleicht war sie entstellt, vielleicht war es noch viel schlimmer.
    Das Pferd war schweißnass. Wills Gesicht verriet nichts. »Du«, sagte er und zeigte erst auf den alten Mann im Hof und dann auf den jüngeren Mann, der auf der Veranda stand, »und du. Alle beide.« Er erhob die Stimme und rief wütend und mit gerötetem Gesicht: »Ich will, dass ihr von hier verschwindet, zurück auf euer Boot.«
    Keiner der Männer rührte sich. Sie sahen ihn aufmerksam an, sahen auf seinen Mund, doch ihre Gesichter blieben ausdruckslos.
    »Jetzt sofort!« schrie Will und wendete das Pferd hin und her. »Versteht ihr kein Englisch? Ich sagte: Raus! « Mike stampfte und schnaubte, seine Flanken bebten. Die Sonne ließ alles hart und unwirklich aussehen.
    »Ist schon gut, Will«, sagte sie, doch es gelang ihr kaum, so laut zu sprechen, dass er es hören konnte. Erleichterung durchströmte sie: Es hatte nichts mit Edith zu tun. Er hatte das Boot gesehen. Er war gekommen, um sie zu beschützen und zu retten. »Sie sind harmlos, Will. Sie verstehen dich nicht, sie ... sie wollen einen Tauschhandel. Sie wollen Fleisch, das ist alles.«
    Doch ihr Mann hörte sie nicht. Er hatte einen seiner Wutanfälle. »Wilderer! Diebe!« schrie er und trieb das Pferd auf den alten Mann zu. Der wich rasch und mit kleinen Schritten zurück, bis er stolperte und zu Boden stürzte. Sie wechselte einen Blick mit dem

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