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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schwarzen Kotkügelchen, während die Männer es bändigten, bis es sich in sein Schicksal ergab und stillhielt, und dann lag das Vlies auf der Erde, und das nackte Tier sprang davon und verbarg sich unter den anderen nackten Tieren. Jenseits des Vorplatzes waren die Schweine in ihrem Koben ganz still, als dächten sie über ihr künftiges Schicksal nach, und selbst die Hühner und Truthähne, die gewöhnlich überall herumliefen, ließen sich nicht blicken. Sie dachte darüber nach, dass die Tiere zu wissen schienen, was hier geschah, auch wenn sie keine bewusste Kenntnis davon haben konnten – das jedenfalls hatte sie immer geglaubt –, als Nichols aus dem Haus trat und über den Vorplatz zu ihr schlenderte.
    Er hielt sich steif, als fühlte er sich nicht wohl in seinen Kleidern, doch seine Stimme war freundlich und angenehm, als er sie begrüßte. »Guten Morgen, Mrs. Waters«, sagte er und blieb neben ihr stehen, so dass sein Schatten für einen Augenblick auf sie fiel. »Gefällt Ihnen die Schur? Der Vorgang, meine ich?«
    Sie musterte ihn kurz: Er war groß, beinahe so groß wie Will, und untadelig gekleidet, als wäre er aus dem Haus gegangen, um zu seinem Club zu gehen und nicht, um sich auf einer Insel, einer abgeschlossenen Welt für sich, einen matschigen Pferch voller verschreckter Schafe anzusehen. »Ja«, sagte sie, sah lächelnd zu ihm auf und war froh, dass sie Puder und ein wenig Rouge aufgelegt hatte, obwohl sie sich diese Mühe meist nicht mehr machte, nicht hier draußen. »Oder vielmehr nein, ehrlich gesagt. Anfangs ist es noch interessant zu sehen, wie das gemacht wird, aber die armen Tiere tun mir leid. Sie scheinen große Angst zu haben.«
    Er wollte den Ellbogen auf die oberste Latte des Zauns stützen, schien es sich jedoch anders zu überlegen. »Aber sie werden doch in keiner Weise verletzt, oder?«
    »Nein«, musste sie zugeben. »Abgesehen von dem einen oder anderen Kratzer vermutlich. Ich habe gehört, dass die Scheren hier schnell stumpf werden, weil so viel Sand in der Wolle ist. Sand«, sagte sie und ließ den Blick über den Pferch und das Durcheinander von Körpern hinweg zu den Hügeln schweifen. »Das ist der Fluch dieser Insel. Er ist überall – in den Kleidern, in den Betten. Wenn man den Tisch eine halbe Stunde vor dem Essen deckt, muss man die Teller abwischen, bevor man anfängt zu essen.«
    Einer der Männer rief etwas auf spanisch, einen Fluch, und sie sah, dass eines der Schafe es geschafft hatte, dem Mann die Schere aus der Hand zu schlagen und sich loszureißen. Es rannte zitternd und mit verstörtem Blick auf sie zu, bis ihr Mann, das Gesicht vor Anstrengung gerötet, es von hinten packte und zu dem dunkelhäutigen Scherer zurückzerrte, der nicht aufhörte, in seiner hermetischen Sprache zu fluchen. Puta , fauchte er. Puta. La reputa que lo parrió .
    »Sehen Sie?« sagte sie. »Und den Lämmern muss man natürlich den Schwanz abschneiden. Aber dabei wollte ich nicht zusehen. Es erscheint mir so grausam.«
    »Warum werden denn die Schwänze abgeschnitten?«
    »Es hat irgendwas mit der Fleischqualität zu tun.« Sie sah zu ihm auf und merkte, dass er von der Schafzucht überhaupt nichts verstand, noch weniger als sie. Entweder das oder es war eine Art Examen. Das sie mit Sicherheit nicht bestehen würde. »Es geht zuviel in den Schwanz und zuwenig in den Rumpf, wo – «
    »Wo die Lammkoteletts sind.« Er schenkte ihr sein schmales Lächeln. »Sie scheinen sich gut auszukennen.«
    »Ach nein, eigentlich nicht. Ich habe nur zugehört, wenn Will mir davon erzählt hat.« Sie stieß ein Lachen aus. »Ich bin keine Farmersfrau, noch nicht jedenfalls. Tatsächlich habe ich bis jetzt immer nur in Städten gelebt.«
    »Das hätte ich nicht gedacht«, sagte er, und es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte. Aber war es wirklich ein Scherz? Oder eine versteckte Kritik?
    Noch mehr Geschrei aus dem Pferch: Ein weiteres Tier hatte sich losgerissen, rannte kopflos hin und her und tat seine Angst mit verzweifeltem, heiserem Blöken kund.
    »Na gut«, sagte er und wandte sich zu ihr. Wieder wollte er den Ellbogen auf den Zaun stützen, und wieder überlegte er es sich anders. »Ich verstehe Ihren Einwand. Aber jedes dieser Tiere wird noch jahrelang leben, während bei Rindern und Schweinen das ganze Tier geopfert werden muss, um einen Ertrag zu liefern. Und hier draußen gibt es nur sehr wenige Verluste, hat man mir gesagt. Keine Wölfe

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