San Miguel: Roman (German Edition)
die Bucht verlassen, da wurde es schlechter: Nach tagelangem Dauerregen zog Nebel auf, so dicht, dass man kaum drei Meter weit sehen konnte. Wenn sie hinausging, um die Hühner zu füttern – eine der wenigen Arbeiten, die ihr regelrecht Freude bereiteten –, musste sie warten, bis sie aus dem Nichts erschienen wie die Geisterhühner, zu denen jedes von ihnen im Lauf der Zeit wohl werden würde, nachdem man ihm erst die Eier, dann die Federn und schließlich das an den Knochen haftende Fleisch genommen hatte: pickende, unglücklich gackernde Geisterhühner in einer Geisterwelt. Ida verlief sich auf dem Weg zur Quelle, die nicht mehr als dreihundert Meter entfernt war, gerade oberhalb der Stelle, wo der Weg hinunter in die Schlucht führte. Die Männer gingen hinaus, um am Weg zu arbeiten, und hatten die Veranda kaum verlassen, da waren sie schon verschwunden wie Münzen, die man in einen Brunnen geworfen hatte. Das Außenklo zu finden erwies sich als schwierig, und sie gewöhnte sich an, den Blick auf die Erde gesenkt zu halten, damit sie das schmale, matschige Band des Pfades erkannte, der von der Hintertür über den Hof, durch das Gatter und hinaus aufs Feld führte, wo schließlich irgendwann die vertikale Fläche der mit inzwischen abblätternder Farbe lackierten Tür in Sicht kam. Wenn man Glück hatte. Zwei- oder dreimal hatte sie sich, getrieben von einem dringenden Bedürfnis, im feuchten, tropfenden Nirgendwo verlaufen, wo nichts zu sehen war als ihre Röcke, ihre Schuhe und die dunklen, nassen Pflanzen zu ihren Füßen.
An diesem bestimmten Morgen – es war der erste März, ihre Verbannung währte schon zwei Monate – fühlte sie sich kräftig genug, um Ida nach dem Frühstück mit dem Abwasch zu helfen. Sie stand an der Arbeitsfläche, trocknete die Teller ab, die Ida aus dem Spülwasser fischte, und stellte sie so ordentlich es ging in den Schrank, auch wenn sie sie lieber auf dem Boden hätte zerschellen lassen. Aber das wäre nicht sehr praktisch gewesen, es sei denn, sie schafften sich eine Töpferscheibe an und machten sich ihre Teller selbst. Tatsache war, dass sie die Hoffnung, ihr Geschirr doch noch zu bekommen, praktisch aufgegeben hatte. Es war irgendwo unterwegs – oder in Charlie Curners Laderaum – verlorengegangen. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie er es auf der Pier zurückgelassen oder in schwerer See über Bord geworfen hatte. Sie sah die Kiste vor sich, das Zeitungspapier, in das sie jeden Teller, jede Tasse und Untertasse, die Sauciere und den ganzen Rest eingewickelt hatte, damit alles gut geschützt war, doch letztlich war das wohl unwichtig gewesen. Wichtig war dies: Ida reichte ihr einen dieser hässlichen, angeschlagenen Teller, und sie trocknete ihn ab und stellte ihn zu den anderen. Es gab einem etwas zu tun. Es war ein Mittel gegen die Langeweile. Bei der Arbeit war es meist Ida, die redete; sie plapperte in einem fort über alles, was ihr gerade in den Kopf kam, aber es war angenehm, ja beruhigend, und das ganze Haus lag still und friedlich im Griff des Nebels. Danach setzte sie sich mit einer Tasse Tee an den Küchentisch und genoss die Wärme des Ofens, und dann nahm sie die zerlesene Nummer von Harper’s Bazaar , die sie bereits zweimal von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen hatte, und ging hinaus zur Toilette.
Sie achtete nicht auf den Weg, denn sie dachte an Edith und daran, dass sie den Schulstoff vernachlässigte – hauptsächlich Lektüre zu Literatur und Geschichte, aber auch Mathematik- und Physikaufgaben sowie die Übungen aus dem Französischbuch, die der Lehrer an der Schule in Santa Barbara ihr in der Woche vor der Abreise aufgegeben hatte –, und zwar, weil es ihr an Disziplin fehlte und ihre Mutter nicht die Energie aufbrachte, sie ständig zu ermahnen, weswegen ihre Mutter ein schlechtes Gewissen hatte. Im Handumdrehen hatte sie sich verirrt. Ein verklumptes Grasbüschel sah aus wie das andere, und ein undurchdringlicher Nebelkokon hüllte sie ein. Es gab keinerlei Orientierungspunkte. Das Haus war verschwunden. Die Zäune. Das Feld. Green Mountain. Sie ging weiter, achtete darauf, wohin sie trat, und machte kleine, schlurfende Schritte. Sie konnte in ein Loch treten, sich den Knöchel verstauchen, sich ein Bein brechen. Wo war das verflixte Ding nur? Es lag doch in dieser Richtung, oder? Aber nein, das konnte nicht sein, denn sonst hätte sie es schon riechen können. Diese Latrine, dieses Plumpsklo – warum konnte sie keine Toilette
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