San Miguel: Roman (German Edition)
viel, zuviel, es war die reinste Sintflut, und ja, es war ein ungewöhnliches Jahr, sagte Will immer wieder, aber die Trockenzeit rückte näher, denn während der April im Osten vielleicht der regenreichste Monat war, verhielt es sich hier draußen ganz anders. Es ging ihr besser, es ging ihr schlechter, wieder besser, wieder schlechter. Die meiste Zeit verbrachte sie, in eine Decke gehüllt, am Ofen.
Eines Nachts, als das Ding in ihr sie nicht schlafen ließ, stand sie vom Bett auf, zündete eine Kerze an und ging hinunter in die Küche. Sie wollte den Ofen schüren und den Wasserkessel aufsetzen. Bis auf die kleinen Geräusche – das Knarzen und Ächzen der Balken, das Summen des Windes an den Außenwänden, das Rascheln der Mäuse – war es still im Haus. Als der Lichtschein auf den Küchenboden fiel, bemerkte sie eine Bewegung, eine hastige Flucht. Die Tiere verschwanden in der Sekunde, die sie brauchte, um zu erkennen, was sie waren: Mäuse. Sie beachtete sie nicht. Sie waren nur eins von vielen Ärgernissen, und sie hatte es aufgegeben, Will in den Ohren zu liegen, er solle Fallen aufstellen. Wozu? Es waren unzählige. Sie gehörten hierher. Im Gegensatz zu ihr.
Sie zündete die Lampe an und blies die Kerze aus. Schürte die Glut und legte einige Stücke Treibholz nach. Der Wasserkrug war gefüllt, wofür sie mehr als dankbar war, und so goss sie Wasser in den Kessel, stellte ihn auf die Herdplatte und setzte sich an den Küchentisch. Auf der Ecke des Tischs lag ein Stapel alter Zeitungen und Zeitschriften, auch sie Artefakte aus ferner Vergangenheit, und obwohl sie jede einzelne Seite bereits mindestens zweimal gelesen hatte, griff sie nach einer Zeitung und las Nachrichten über Geschehnisse in der wirklichen Welt, die inzwischen so bedeutungslos waren, dass sie sich ebensogut vor hundert Jahren hätten ereignet haben können.
Das Wasser kochte. Sie stand auf, goss sich einen Becher voll, gab, um Tee zu sparen, etwas Vanilleextrakt und Zucker hinein und wollte sich gerade wieder setzen, als sie im Flur ein Geräusch hörte. Oder nein: nicht im Flur, sondern in Idas Zimmer. Es war ein heimliches, gedämpftes Geräusch, es setzte ein und hörte wieder auf, doch dann entwickelte sich ein langsames, rhythmisches Hin und Her, als würden sich zwei Dinge, zwei Objekte, zwei Körper aneinanderreiben. Sie erstarrte und lauschte. Da, da war es wieder. Sie hielt den Atem an, um das Pfeifen ihrer Lunge zum Schweigen zu bringen, und der Schmerz fiel triumphierend über sie her und drückte ihr die Luft ab, und obwohl sie sich nicht verraten wollte und versuchte, es zu unterdrücken, begann sie zu husten. Es fing ganz leicht und sacht an, beinahe als wäre sie dabei, eine neue Art des Atmens zu erlernen, als würde sie den Husten willkommen heißen, doch dann wurde er rascher und heftiger, bis ihr Gesicht in Flammen stand und ihre Lunge pochte, und sie musste sich am Tisch abstützen und in den Becher spucken und ihn ansehen, den Auswurf, das einzige, was sie je zur Welt gebracht hatte, den harten gelblichen Klumpen, der im jetzt trüben Wasser schwamm.
Im Haus war es wieder still. Nichts regte sich. Kein Atemhauch. Selbst der Wind hatte sich gelegt. Doch es war eine ganz andere Stille, das spürte sie: eine tiefere, lauschende Stille. Ihr Herz klopfte. Ihre Kehle schmerzte. Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und atmete durch. Dann ging sie in den Flur, ganz langsam, Schritt für Schritt. Die Dielen knarzten nicht – das wagten sie nicht –, und die hässlichen, weißgestrichenen Wände standen stumm. Als sie vor der Tür zu Wills Zimmer stand, der Tür zur Vorratskammer, zur Mönchszelle, brauchte sie eine Ewigkeit, um den Griff anzuheben, denn sie wollte nicht das leiseste Geräusch machen, und als sie die Tür Zentimeter für Zentimeter öffnete und der in den Flur fallende Widerschein der Küchenlampe auch diesen kleinen Raum erhellte, sah sie das Bett an der Wand, Wills Bett, und sah, dass es leer war.
DAS GEWICHT
Danach ging alles auf eine neue Art voran, als wäre die komplizierte Maschinerie dieses Ortes zuvor durch irgend etwas blockiert gewesen und könnte nun wieder frei und ungehindert funktionieren. Der Frühling – die Trockenzeit – kam in der zweiten Aprilwoche, genau wie Will es vorausgesagt hatte. Der ständige Nebel wich einer Reihe sonnendurchwärmter Tage, die die Insel in Brand zu setzen schienen. Überall brüteten Vögel, die Schweine tollten in ihrem Koben herum, eine warme
Weitere Kostenlose Bücher