San Miguel: Roman (German Edition)
ersten Chinesen, bevor dieser von der Veranda sprang und davoneilte. Beim Anblick seines überraschten, gekränkten, ängstlichen Gesichts schämte sie sich.
»Will«, sagte sie noch einmal.
Er riss das Pferd herum, beugte sich zu ihr und funkelte sie an. »Halt du dich da raus«, sagte er. »Sie haben kein Recht. Kein Recht!«
Sie sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Hoch zu Ross trieb Will die beiden vor sich her, den Weg entlang und hinunter zur Bucht. In der Ferne schimmerte das Meer, und die Böschung ragte über ihnen auf wie eine dunkle Wolke mit gezackten Rändern. Irgendwann merkte sie, dass sie noch immer die Abalonenkette in der Hand hielt. Sie konnte sie riechen, diese Meeresfrüchte: Es war ein Geruch nach Jod und dem, was zurückblieb, wenn das Leben vorbei war. Auf der anderen Seite des Hofs stritten sich die Hühner um die andere Kette, die der alte Mann hatte fallen lassen. »Hier, put-put-put«, sagte sie und ging die Stufen hinunter. »Hier, put-put-put.«
KNOCHEN
Am nächsten Morgen schlief sie lange. Sie glitt in Träume hinein und wieder hinaus und war sich undeutlich eines dumpfen, unterbrochenen Hämmerns bewusst, das von unten kam und sich anhörte, als wäre Will dabei, das Haus von innen heraus zu erneuern. In ihren Träumen ging es um Flucht und Rettung, es waren Adlerträume, doch jedesmal, wenn sie sich hoch in die Lüfte schwang, holte das Wummern sie wieder zurück. Es war zum Verrücktwerden. Sie hatte bis in die frühen Morgenstunden wach gelegen, der Schmerz in ihrer Brust hatte ihr im vertraulichen Flüsterton vom Jenseits erzählt, und all ihre Sorgen und Ängste um Edith und ihren Mann und ihr eigenes schwindendes Ich hatten in Schatten gelauert, die kein Lampenlicht vertreiben konnte.
Mechanisch kleidete sie sich an. Ihre Glieder waren schwer wie Balken: Sie sah vor ihrem geistigen Auge Schiffswracks auf dem Meeresgrund, die von der Tide zweimal täglich bewegt wurden, wobei die Spanten sich in stummem Protest hoben und senkten. Dann ging sie die Treppe hinunter in die Küche. Ida saß am Tisch und blätterte in einer Zeitschrift. Neben ihrem Arm stand ein Becher. »Oh«, sagte sie, »Sie sind auf.« Und dann: »Kann ich Ihnen was machen – Eier, Pfannkuchen? Toast? Möchten Sie etwas Toast?«
Der Himmel vor dem Fenster war grau. Der Wind wehte. Ein Geruch nach erkaltetem Kaffee lag in der Luft. »Toast«, sagte sie. »Und Kaffee. Frischen Kaffee. Ich will keine Reste.« Sie blieb einen Augenblick in der Tür stehen und ließ ihren Blick durch den Raum gehen: Alles war dreckig, hoffnungslos dreckig, die Töpfe waren innen so schwarz wie außen, auf den Borden waren schmutzige Fingerabdrücke, auf der Arbeitsfläche stapelte sich das Frühstücksgeschirr in einer Pfütze aus erkaltendem Fett. Es war widerwärtig. Das Leben war widerwärtig. »Ich werde im Salon frühstücken«, sagte sie und drehte sich bereits um, und wenn die Wörter »bitte« oder »danke« nicht gefallen waren, nun, um so besser. In letzter Zeit ärgerte sie sich über Ida. Wie sie scharwenzelte. Wie sie Will behandelte, als wäre er ein auf die Erde herabgestiegener Gott, die letzte Autorität auf jedem Gebiet, Präsident, General und oberster Richter zugleich. Sogar wie sie aussah mit ihrer hohen glatten Stirn und dem Haar, das immer über ihre Schultern hing, ganz gleich, wie oft sie es wieder aufsteckte, mit ihrem gespitzten Puppenmündchen und den scharfen grünen Augen, denen nichts entging. Und außerdem: Machten sich Sträflinge etwa Gedanken über Umgangsformen? Oder Schiffbrüchige? Sagten die etwa bitte und danke?
Sie war schlechter Laune, daran war nichts zu ändern. Im Salon – er war so dunkel, feucht und kalt wie immer – ging sie zum Ofen und stellte fest, dass der Holzkorb, der daneben stand, leer war, weil Ida zu sehr damit beschäftigt war, The Ladies’ Home Journal zu lesen, um für etwas so Unwichtiges zu sorgen wie dafür, dass es im Haus wärmer war als in einer Gruft. Sie riss die gusseiserne Ofentür auf – die kaum lauwarm war – und stocherte mit dem Schüreisen wütend in der Glut, bevor sie sich in ihren Sessel setzte. Und wo war eigentlich Edith? Warum half sie nicht? Weil sie einen Spaziergang machte oder ausritt oder Muscheln sammelte, weil sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte und zum sechstenmal Jane Eyre oder Die Abtei von Northanger las, anstatt sich um ihre Schulaufgaben zu kümmern, weil sie gedankenlos war, darum. Marantha wollte gerade nach
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