San Miguel: Roman (German Edition)
ihr rufen, zur Treppe gehen und ihren Namen rufen, ganz gleich, wie sehr sie das anstrengte, als sie sich im Raum umsah und stutzte.
Es dauerte einen Augenblick, bis sie registrierte, was sie sah. Regale. An der Stirnwand hatte Will, während sie sich in unruhigem Schlaf hin- und hergewälzt hatte, eine Reihe von Brettern angebracht – das erklärte das dumpfe Hämmern. Was sie jedoch nicht verstand, war, warum er damit nicht gewartet hatte, bis sie aufgestanden war. Wozu die Eile? Und wozu brauchten sie überhaupt Regale? Sie hatten kaum mehr als zwei Dutzend Bücher mitgenommen und nichts, was man hätte ausstellen können, keine Kuriositäten, keine Bilder, keine Statuetten, nicht einmal eine Kaminuhr. Und doch lag dort bereits etwas, wie sie jetzt erkannte: Auf den beiden obersten Brettern war irgendwelches formloses Zeug, das aussah wie von der Flut angespült, als hätte das Wasser, während sie geschlafen hatte oder vielmehr versucht hatte zu schlafen, das Zimmer überschwemmt und dieses Treibgut zurückgelassen. Verwundert stand sie auf und trat näher.
Anfangs dachte sie, es sei eine Steinsammlung und Will sei vielleicht plötzlich von einer Art Leidenschaft für Geologie befallen worden, doch dann begriff sie: Es waren Artefakte, indianische Artefakte, die Ausbeute der gestrigen Expedition. Pfeilspitzen, ein Steinmesser, Muschelketten, ein Mörser und ein Stößel und etwas, das aussah wie eine Servierschüssel aus glattem grauem Stein, die einen unebenen Boden hatte und ein wenig schief stand. Sie nahm eine der Pfeilspitzen in die Hand – oder nein, das musste eine Speerspitze sein, so lang und schmal wie ein Brieföffner und nach all der Zeit noch immer scharf –, als sie im Flur Schritte hörte. Es war Edith, die langsam und vorsichtig ging und etwas in den Armen hielt. Sie war zur Abwechslung einmal mit Sorgfalt gekleidet und trug ihren dunkelgrauen Rock und eine helle Hemdbluse. Sie sah hübsch aus und schien eine Art Schmuck zu tragen, ein blasses, konkaves Objekt, das an einem silbernen Kettchen um ihren Hals hing.
»Wie gefällt es dir, Mutter?« fragte Edith und stellte sich vor sie hin.
»Was ist das?«
»Ein Anhänger. Ein indianischer Anhänger. Siehst du?« Edith stellte das, was sie in den Armen hielt – noch mehr Artefakte, schmutzige Dinge, die vergessen in der Erde gelegen hatten, irgendwelche aus Stein, Muscheln oder Knochen verfertigte Dinge –, auf dem Tisch ab und hob die Kette ein wenig an, damit Marantha den Anhänger betrachten konnte.
Es war ein bearbeitetes Stück Muschelschale, genau in der Mitte durchbohrt, so dass es perfekt balanciert war. Das Perlmutt fing das Licht ein und schimmerte, als wäre es gestern erst poliert worden. »Sehr hübsch«, sagte sie.
»Jimmie hat es gefunden.«
»Jimmie? Und er hat es dir geschenkt?«
»Mutter! Er kann’s ja wohl nicht selber tragen, oder?«
Sie wollte etwas sagen, wollte Einwände machen – Jimmie –, als Edith sich über den Tisch beugte, ein paar der Fragmente, die dort lagen, in die Hand nahm und sie ihr hinhielt. »Weißt du, was das ist?«
Ja, das wusste sie. Es waren Schneckengehäuse, so rot wie Trauben, so braun wie Kastanien, die Gehäuse von Schnecken, die in der Gezeitenzone lebten und die man fand, wenn man bei Ebbe am Meer entlangging. »Schnecken?«
Edith wusste mehr als sie. Sie grinste. Sie genoss es. »Sieh genauer hin – siehst du die Löcher? Jede ist durchbohrt, so dass man sie auf eine Schnur ziehen kann. Das ist Geld, Mutter – so was haben die Indianer als Geld benutzt.«
»Tatsächlich? Dann sind wir wohl reich. Aber wo sollen wir es nur ausgeben?«
Edith lachte, und das war ein schönes Geräusch. Sie war in letzter Zeit – seit Wochen, wie es schien – so trübselig gewesen, und wenn sie sich nicht in ihrem Zimmer vergraben hatte, war sie draußen umhergestreift wie eine verzweifelte, melancholische Heldin in einem ihrer Romane. Bei den Mahlzeiten entsprach ihr Benehmen nur eben noch den Geboten der Höflichkeit, sie war übelgelaunt und verdrossen und beklagte sich endlos, sie sterbe vor Langeweile – als wäre sie die einzige, die unter der Situation litt, als könnten sie mit einem Fingerschnippen in die Wohnung zurückkehren, die sie sich nicht mehr leisten konnten, jedenfalls nicht, solange die Wolle nicht verkauft war. Sofern sie je verkauft wurde. Sofern Will die Straße jemals fertigstellte und Charlie Curner mit seinem Boot je zurückkehrte und die Erde aufhörte, sich zu
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