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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sich zweimal um und sah zurück zur Straße hinunter, bevor sie erschrocken bemerkte, dass ihre Mutter völlig reglos in einem Sessel in der Ecke des Vorgartens saß. Zuerst dachte sie, ihre Mutter warte auf sie, bereit loszuschimpfen, doch dann sah sie, dass sie die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt hatte, so dass die Sonne ihr direkt ins Gesicht schien. Das war seltsam und sah ihr gar nicht ähnlich. Ihre Mutter würde niemals in der Sonne sitzen und ihren Teint ruinieren, nicht ohne Sonnenschirm, doch der war nirgends zu sehen. Und außerdem oder vielmehr schlimmer: Ihre Arme hingen schlaff zu beiden Seiten des Sessels herunter, die Finger waren leicht gekrümmt, und die Hände wirkten, als seien sie mit Draht befestigt.
    »Mutter?« rief sie und lief die Treppe wieder hinunter. Ihr Herz pochte, und dann rannte sie über den Rasen, das Sonnenlicht bleichte alles, so dass die Schatten ganz flach wurden und das Haus aussah, als wäre es aus Pappe, bloß eine Kulisse. »Mutter! Mutter!« Sie schüttelte sie.
    Der Augenblick schwoll an und schwebte riesig über ihr, bis er mit einemmal zerplatzte. Ihre Mutter schlug die Augen auf. »Was?« sagte sie und rang nach Atem. »Was ist?«
    »Ich dachte ...« Edith sprach den Satz nicht zu Ende. Im grellen Sonnenlicht sah das Gesicht ihrer Mutter abgezehrt aus. Die Knochen zeichneten sich ab, Falten zupften an dem blutleeren Fleisch rings um die Augen, als sollte es immer fester gezurrt werden, bis keine Spur von Weichheit mehr blieb. »Ich wollte sagen: Ich bin wieder da. Aus der Schule zurück.«
    »Ich hab mich nur kurz hingesetzt, um ein bisschen zu verschnaufen.«
    Man hörte Geräusche, all die Geräusche, die ihr so gefehlt hatten – Stimmen aus dem Nachbarhaus, das Quietschen und Klappern einer vorbeifahrenden Kutsche, eine entfernte Glocke, die die Viertelstunde schlug –, und das lenkte sie ab. Für einen Augenblick war sie wieder vor dem Hotel, stieg, ein Hündchen im Arm, die Stufen hinauf, die Türen wurden weit aufgerissen, und die Kristallbehänge des Kronleuchters im Ballsaal am Ende der Halle glitzerten wie Sterne. Sie wollte nicht hier sein. Wollte ihre Mutter nicht in diesem Zustand sehen. Wollte keine Angst haben. »Brauchst du etwas?« hörte sie sich sagen. »Ein Glas Wasser? Deinen Sonnenschirm – brauchst du nicht deinen Sonnenschirm?«
    Ihre Mutter sah sie seltsam an, beinahe als würde sie sie nicht erkennen, und dann kniff sie die Augen zusammen und begann zu husten. Der Husten klang hoch und hohl und dröhnte in ihrem Brustraum, als wäre es der Resonanzkörper eines Musikinstruments, und dann holte sie pfeifend Luft für den nächsten Husten und den nächsten, bis Husten und pfeifendes Luftholen ineinander übergingen und ihre Mutter sich im Sessel zusammenkrümmte. Edith fühlte sich hilflos. Wenn ein solcher Anfall erst einmal begonnen hatte, nahm er seinen Lauf, ganz gleich, ob irgend jemand da war, der helfen oder trösten wollte. Sie klopfte ihrer Mutter mechanisch auf den Rücken, obwohl sie nicht nach Luft rang – sie ertrank in ihren eigenen Körperflüssigkeiten, in Blut und Schleim und den toten Zellen der Krankheit, die in ihr war und erst dann nicht mehr sein würde, wenn auch sie nicht mehr war. Die Wahrheit war hier, vor ihren Augen, aber es war schwer, zu schwer, sich ihr zu stellen. Und so wandte sie sich ab und spürte, dass die Finsternis sie durchfuhr wie die Zugluft, wenn eine Tür offenstand.
    Ihre Mutter hustete. Sie klopfte. Hörte nicht auf zu klopfen. Von einer Palme im Nachbargarten stob ein Schwarm winziger dunkler Vögel auf.
    »Ich hole dir deine Medizin«, sagte sie.
    »Nein. Mir geht’s« – der Husten schüttelte sie –, »mir geht’s gut.«
    »Dann ein Glas Wasser. Komm, ich helfe dir.«
    Ihre Mutter stieß sie zurück, die Arme waren in wilder Bewegung, die Hände flatterten, und sie hustete, bis der Auswurf kam. Sie spuckte ihn in den Blechbecher, den sie zwischen ihren Beinen verbarg. Dann holte sie rasselnd Luft, doch der nächste Husten lauerte schon im Hintergrund, wie eine Fledermaus, die nur darauf wartete, herabzustoßen und durch die Luft zu wirbeln. Sie hustete sich die Lunge aus dem Leib, und die Anstrengung trieb ihr die Tränen in die Augen. »Ich will nicht« – und da kam der Husten, hart und bellend –, »ich will nur ...«
    »Du brauchst einen Arzt. Ich hole einen Arzt.«
    Und plötzlich drang die Stimme ihrer Mutter auf sie ein, hart und spitz wie ein Dolch: »Ich will

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