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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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standen sie reglos da. »Menschen, die krank werden, sind nicht mehr sie selbst. Es ist genau wie bei Hunden. Als ich zehn oder elf war und bei meiner Tante Maeve lebte – ich hab dir doch von ihr erzählt: die Schwester von meinem Vater, die uns drei aufgenommen hat –, da hatten wir einen Hund, eine Promenadenmischung. Er hieß Lucky, und mich mochte er am liebsten, vielleicht weil ich ihm immer Küchenabfälle gegeben hab und die anderen sich nicht um ihn gekümmert haben. Eines Tages wurde er von einem Wagen überfahren und brach sich das Bein, so dass man den Knochen sehen konnte, und meine Tante sagte, ich solle nicht hingehen, denn vor lauter Schmerzen würde er mich nicht erkennen, und ich – «
    »Aber sie ist die ganze Zeit so wütend. Auf alle. Und besonders auf dich. Warum? Es ist einfach nicht recht, dass sie dich nicht mehr im Zimmer haben will und nicht zum Essen herunterkommt, wenn du da bist.« Sie wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster auf den Nachbargarten, wo eine Frau Blumen schnitt und sie in die Vase steckte, die das kleine Mädchen neben ihr geduldig hielt. Der Augenblick gerann: Schmetterlinge, Vögel, das Sonnenlicht wie Sirup über allem, die Bäume, die sich dem Himmel entgegenreckten. »Was ist passiert?« fragte sie und sah wieder Ida an. »Was hast du ihr getan?«
    Idas Augen. Ihr Mondgesicht. Ihre gespitzten Lippen, trockene Lippen, deren weiche, rosige Haut aneinanderhaftete. »Ich weiß nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«

DIE LEERE HÜLLE
    Und dann veränderte sich alles. Wie versprochen kehrten sie nach San Francisco zurück, allerdings in eine Mietwohnung, und zwar nicht die, in der sie aufgewachsen war, denn dort wohnten jetzt andere Leute, und wenn sie daran vorbeiging, dann nur, so sagte sie sich jedenfalls, weil es auf dem kürzesten Weg zu ihrem jeweiligen Ziel lag, und sie erlaubte sich nie, zu dem Fenster in der ersten Etage aufzusehen, wo die Geranien ihrer Mutter gewesen waren und Sampan sich an die von der Sonne erhitzte Fensterscheibe gedrückt hatte, so dass man ihn schon von der Ecke aus hatte sehen können. Ärzte kümmerten sich um ihre Mutter und verabreichten ihr neue Medikamente. Die Köchin – Ida war in Santa Barbara geblieben, in diesem Punkt hatte ihre Mutter nicht mit sich reden lassen – war eine reizbare alte Frau namens Mrs. Offenbacher, die eine der drei Hexen in Macbeth hätte spielen können, und zwar ohne Schminke und Perücke. Die Zimmer waren trist und von jemand anders möbliert: Vertrocknetes Pampasgras stand in einer Vase neben der Tür, die Möbel waren abgenutzt und beschädigt, und in der Luft hing ein Geruch nach Staub und Vernachlässigung. Unter anderen Umständen wäre all das deprimierend gewesen, aber nicht für sie, nicht nach der Insel. Sie war in San Francisco – alles andere war unwichtig. Ihre Freundinnen waren hier, ihre wahren Freundinnen, Mädchen, die sie schon ihr Leben lang kannte, nicht bloß Klassenkameradinnen wie Becky Thorpe und die anderen in Santa Barbara, und sie hatten sie auch nicht vergessen: Schon wenige Tage nach ihrer Rückkehr erhielt sie Einladungen zu Feiern und Tanztees, zu Kutschfahrten im Park, zu Picknicks und Ausflügen an den Strand. Und was noch besser war: Sie hatten wieder Geld, und das bedeutete, dass sie ihre Ballett- und Gesangsstunden wiederaufnehmen konnte.
    Als Ende August der Tag näherrückte, an dem sie nach Santa Barbara zurückkehren sollten – Wegen der guten Luft , wie ihr Stiefvater sagte, und wegen der Schule natürlich –, fühlte sie sich wieder niedergeschlagen. Sie wollte, dass ihre Mutter sich erholte, natürlich wollte sie das, sie wünschte es sich von ganzem Herzen, aber wie sie es sah, war die Luft dort unten kein bisschen besser als hier – es war doch alles Kalifornien, oder nicht? Warum konnten sie nicht in San Francisco bleiben? Warum konnten sie nicht warten, bis der Mietvertrag für ihre alte Wohnung abgelaufen war und sie wieder dort wohnen konnten, anstatt immer von einem Ort zum anderen zu ziehen wie Zigeuner? Sie wollte nicht quengeln, sie wollte sich nicht beklagen, aber genau das tat sie.
    Eines Nachmittags ging sie nach dem Ballettunterricht die Treppe hinauf, schlurfend, mit schleppenden Schritten und einer Wut auf die ganze Welt. Im Gang roch es nach Mrs. Offenbachers Sauerbraten, und die ekelhafte Frau von nebenan kam mit ihren beiden Gören die Treppe herunter, so dass Edith zur Seite treten und ein falsches

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