San Miguel: Roman (German Edition)
war ein zweiter, mit niedrigem Gebüsch bewachsener Vorsprung, ein Stück Fels, hoch über dem Meer wie das Krähennest eines Schiffs, und dort saßen Edith und Jimmie und spielten eines ihrer Spiele. Edith saß ohne Hut und in einem alten grünen Hemdblusenkleid, aus dem sie längst herausgewachsen war, auf einem Stein, so nah, dass Marantha ihren Scheitel erkennen konnte. »Ich wette, du hast bloß Angst«, sagte Edith.
»Ich hab keine Angst.« Aus diesem Blickwinkel sah sie nur die Mütze des Jungen, seine dünne Nasenspitze, zwei Ohren und die Schultern.
»Dann los, Caliban. Los, küss mich.«
Und er hätte es getan, er wollte es jedenfalls tun, doch sobald er sich zu ihr beugte, stieß Edith ihn zurück, während unter ihnen das Meer gegen die Felsen donnerte und sich wieder zurückzog. »Nein«, sagte Edith, »nicht da«, und sie hob die Röcke, so dass das Sonnenlicht auf ihre vollkommene, makellose Wade fiel, auf ihr Knie, den Saum ihres Unterkleids. Jimmie kroch auf Händen und Knien wie ein Tier, und Edith raffte die Röcke, bis ihre langen weißen Beine ganz und gar entblößt waren. »Hier«, sagte sie, »hier sollst du mich küssen.«
Und nun sah Marantha das Maultier und die schmalen Schultern des Jungen und die Schlucht, die sich zum letztenmal vor ihr öffnete. Sie empfand keine Nostalgie, nur Reue. Und wenn sie Edith einen ganzen Tag Zimmerarrest gegeben und Jimmie für immer vom Esstisch verbannt hatte, so war das angesichts des Schocks, den sie erlitten hatte, eine milde Strafe. Was hatte sie sich nur gedacht, als sie sich einverstanden erklärt hatte, Edith hierherzubringen? Ganz gleich, wieviel es sie gekostet oder wie sehr die Trennung sie geschmerzt hätte – sie hätte Edith auf ein Internat schicken sollen, und wenn sie noch einmal die Wahl hätte, würde sie nicht zögern. Und was Jimmie betraf: Sie wollte, er wäre ihr nie unter die Augen gekommen.
Als sie aus der Schlucht an den Strand kamen, wo der Schlitten mit einem leisen, gleichmäßigen Zischen über den Sand glitt und das Maultier es leichter hatte, sah sie, dass das Meer von Vögeln wimmelte. Es war ein gewaltiger Schwarm von Möwen, Sturmvögeln und Pelikanen, die kreisten und auf das Wasser niederstießen, so viele, dass der Schoner beinahe in dieser Wolke verschwand. Dies war ihr Festschmaus: Die Sardinen wurden von größeren Fischen an die Oberfläche getrieben, wo die Vögel ihren Anteil einsammelten, eine Szene, so elementar wie vor Äonen, als die Mammuts durch das Land gezogen waren und die Gletscher sich höher aufgetürmt hatten als die Berge, die sie unter sich erdrückten. Unter anderen Umständen hätte sie das gewürdigt, es hätte ihr vielleicht sogar gefallen – die ungezügelte Natur, wie Winslow Homer sie hätte malen können –, doch sie hatte genug von der Natur. Sie senkte den Blick auf den Korb, und sobald das Maultier stehenblieb, stieg sie von ihrem Schaukelstuhl und ging zum Ruderboot, während Curner über den Sand zum Schlitten stapfte, um Jimmie mit den Kisten zu helfen. Nein, sie wollte nicht auf die anderen warten, sie wollte, dass jemand die Ruder nahm und sie zum Schiff übersetzte, wo sie auf der Bank im Salon Platz nehmen und die Wände anstarren wollte, bis sie das Klirren der Ankerkette im Hafen von Santa Barbara hörte.
Diesmal kam Ida nicht herunter, um sie zu trösten oder sich um sie zu kümmern oder sich auch nur zu zeigen, kein einziges Mal während der ganzen Fahrt, und Edith, die genug vom Meer hatte, leistete ihr auch nicht Gesellschaft: Sie legte sich in eine der Kojen und war eingeschlafen, noch bevor sie die Bucht verlassen hatten. Da Will und Adolph an Deck waren, an dieser oder jener Leine zogen und hin und wieder einen Abschiedstrunk aus einer von Charlie Curner mitgebrachten Flasche nahmen, hatte Marantha den Salon für sich allein. Oder vielmehr: Sie und der Kater hatten ihn für sich allein. Sie hatte den Korb verschlossen gehalten, bis sie an Bord waren, und dann hatte sie Marbles freigelassen. Er entfernte sich aber nicht weit: Er drehte eine Runde durch den Raum, verharrte kurz beim Geruch der Nager in ihren Verstecken, und dann lag er wieder auf ihrem Schoß und schnurrte sich in den Schlaf. In seiner kurzen Zeit auf der Insel hatte er sich als ausgezeichneter Mäusefänger erwiesen, das Haus nachts durchstreift und ihr eine kopflose Maus nach der anderen präsentiert, doch es war zu wenig und kam zu spät. Inzwischen war es ihr gleichgültig, ob die Mäuse das
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