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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Tatsache, dass sie offenbar sprechen konnten, ohne Atem zu holen, überwältigt von ihren Kleidern, ihrer Keckheit und ihrer schieren Menge. Eine von ihnen, Becky Thorpe, an die sie sich vom vergangenen Dezember her noch am besten erinnerte, fragte sie, ob sie nach der Schule zusammen mit ihr nach Hause gehen wollte, doch Edith schüttelte errötend den Kopf und murmelte: »Morgen vielleicht.«
    Dennoch ließ sie sich auf dem Heimweg Zeit, sah in Schaufenster, blieb gerade so lange vor dem Drugstore stehen, dass sie keine Aufmerksamkeit erregte, und ging, einfach aus Freude am Neuen, die Treppe des Arlington Hotel hinauf und hinunter. Das Hotel hatte es ihr besonders angetan: ein mondäner, drei Stockwerke hoch aufragender Palast für Damen und Herren der besseren Gesellschaft, die wegen der Luft, des Meers und der Sonne kamen, ein Hotel mit einem eigenen Orchester und, wie es hieß, dem besten Restaurant der Stadt. Sie sah die Frauen wie Juwelen aufgereiht auf der Veranda sitzen, die sich im Erdgeschoss um die ganze Längs- und Breitseite des Gebäudes zog, die feinen Damen, die aus San Francisco und Los Angeles und noch weiter entfernten Orten gekommen waren, womöglich sogar von der Ostküste, sie studierte ihre Seidenkleider und Pelze und Schoßhündchen, als wären sie ihr eigentlicher Unterrichtsstoff – und das waren sie tatsächlich oder würden es sein, sobald das Schuljahr um war und sie mit ihrer Mutter nach San Francisco zurückkehren würde. Während sie beobachtete, wie eine Frau in einem teuren Kleid aus blauem Samt und mit einem russischen Windhund an der Leine die Treppe hinaufging und die Pagen sich geradezu überschlugen, ihr die Türen aufzureißen, musste sie über sich selbst lachen: Sie hatte gerade den ersten Schultag seit Dezember hinter sich und blickte schon voraus auf das Schuljahrsende.
    Egal. Sie interessierte sich eben nicht für Mathematik oder Geographie. Sie interessierte sich fürs Theater, für das Burbank, das Tivoli, das Baldwin. Für Lillian Russell. Für Tänzerinnen. Das Rampenlicht. Das Orchester, dessen Klänge sie in der Brust spürte wie das Rauschen ihres Blutes, wenn die Musiker nur ihre Instrumente stimmten. Das war das Leben, nicht irgendeine Provinzschule, und damals in San Francisco war ihre Mutter, solange sie zurückdenken konnte, mit ihr ins Theater oder zu Konzerten gegangen, in Dramen und Varietévorstellungen gleichermaßen. Sie fand es immer wieder aufregend: das erwartungsvolle Raunen des Publikums, wenn die Beleuchtung gedämpft wurde, oder dass die Schauspieler sich in Hemdsärmeln und Hauskleidern auf der Bühne bewegten, als wären sie daheim, in ihrem Salon, wo die Vorhänge zugezogen waren und niemand sie hören und sehen konnte, oder dass die Musiker so präsent waren, als würden sie gleich davonschweben.
    Lange saß sie auf einer Bank im Garten des Hotels und fühlte sich, als täte sie etwas Verbotenes. Wenn irgend jemand kam und sie fragte, würde sie sagen, sie sei Gast im Hotel, in Begleitung ihrer Eltern von San Francisco hierhergereist, und wohne in Zimmer Nummer 200 – eine willkürlich gewählte Zahl. Aber gab es überhaupt so viele Zimmer? Sie zählte rasch die Fenster: vierzehn Zimmer pro Seite mal drei Etagen mal vier Seiten – hundertachtundsechzig. Na gut. Dann war sie eben in Nummer 168 , und vielleicht war das eine Suite mit einer Marmorbadewanne und goldenen Wasserhähnen, wer konnte das schon wissen? Als niemand sie ansprach, war sie beinahe enttäuscht.
    Es war schon nach fünf Uhr, als sie sich auf den Heimweg machte – sie merkte erst, wieviel Zeit vergangen war, als sie auf die Uhr vor der Bankfiliale gegenüber dem Hotel sah –, und sie beeilte sich, hatte ein schlechtes Gewissen und ahnte schon, was ihre Eltern sagen würden. Ihre Mutter würde schimpfen, mit ihrer krächzenden, erschöpften Stimme, die wie das Summen von Insekten klang, wie das Summen von Hornissen, wütenden Hornissen, und dann würde sich ihr Stiefvater einmischen. Hatte sie ihre Zeit mit Unsinn vertan? Hatte sie sich etwa mit Jungen herumgetrieben?
    Den letzten Block rannte sie, und darum war sie außer Atem, als sie das Tor aufstieß und auf die Treppe zuging. Alles schien ganz normal – da war die Schaukel auf der Veranda, das dunkel gestrichene Geländer mit den weißen Stäben, die Fenster spiegelten das Sonnenlicht, und die Gardinen dahinter hingen reglos –, und doch hatte sie das eigenartige Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie drehte

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