San Miguel: Roman (German Edition)
Haus überrannten, ob sich ihr Kot bis zur Decke stapelte und sie die Wände zu Zahnstochern zernagten. Die Mäuse lagen jetzt hinter ihr. Alles lag hinter ihr. Das Schiff wiegte sich leise, das Meer war so glatt wie die Laken, die sie geflickt, zusammengefaltet und für die Heimreise verpackt hatte. Die Bugwelle zischte leise. Es war sehr still. Es dauerte nicht lange, und sie döste ein.
Und dann – sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war – stand Will neben ihr und rüttelte sie sanft. »Minnie«, sagte er mit leiser, entschuldigender Stimme. »Minnie, wach auf, wir sind gleich da.«
Sie war umfangen vom Nebel des Schlafs und der Stumpfheit des Dings in ihr, das gerade erwachte und gähnend die Krallen ausfuhr, und so sah sie blinzelnd zu ihm auf und sagte: »Wo?«
»Wo?« wiederholte er. »In Santa Barbara. Willst du nicht raufkommen und dir die Küste ansehen?«
Und jetzt war sie wach, ganz wach, zum erstenmal seit Monaten. »Ja«, sagte sie und hustete nicht, noch nicht. Sie hob den Kater von ihrem Schoß, stand auf und glich die Bewegungen des Schiffs mit den Beinen aus. Sie überprüfte den Sitz ihres Huts, strich das Kleid glatt, und dann schenkte sie ihm – spontan und gleichsam unwillkürlich – ein Lächeln, so rein und unkompliziert wie der Abend, der ringsumher zum Leben erwachte. »Ja, gern«, sagte sie, und vor ihrem inneren Auge sah sie bereits den Blick vom Deck: die Boote, die auf dem Wasser im Hafen schaukelten, die Kutschen an Land, die Palmen, die Straßen, Gassen und Alleen, und in den Häusern, die sich in ordentlichen Reihen die Hänge hinaufzogen, zündete man gegen die hereinbrechende Dunkelheit schon die Lampen an.
Teil II
EDITH
HEIMKEHR
In der schmalen Koje, die nach Bilgewasser und Haaröl und den Ausdünstungen des Mannes roch, dem sie gehörte – Curner, Mr. Curner, Captain Curner –, schlief sie während der gesamten Rückfahrt wie eine ägyptische Mumie, doch als ihre Mutter kam und flüsterte: »Wir sind da«, war sie sogleich hellwach. Danach konnte sie nicht mehr schlafen, jedenfalls nicht in den beiden Nächten, die folgten, und zwar vor lauter Aufregung. Es war, als hätte sie noch nie zuvor gesehen, gehört, gefühlt oder geschmeckt, als wäre sie farbenblind gewesen, als wären ihre Ohren mit Wachs verstopft und ihre Zunge mit Magnesia überzogen gewesen. Man hatte ihr etwas vorenthalten, man hatte sie wie eine Märchenprinzessin auf eine einsame Insel verbannt, wo alles monoton und trostlos war und man nur das Jaulen des Windes und die leisen, zusammenhangslosen Schreie der Schafe, Robben und Vögel hörte. Die Welt war zum Schweigen gebracht worden, doch jetzt erstand sie in einer Explosion aus Farben und Geräuschen, herrlichen Geräuschen, wieder auf.
Noch am selben Morgen, an dem sie in das gemietete Haus zurückgekehrt waren, die Tücher von den Möbeln genommen, Staub gewischt, geputzt und sich zu einem Essen gesetzt hatten, das nicht aus Hammel- oder Truthahnfleisch oder Fisch im eigenen Schleim bestand – es gab Steak, Ida hatte Steaks und Pommes frites gemacht, dazu einen frischen Gartensalat, der noch besser schmeckte als das Fleisch, der grüne Salat eine Offenbarung, die Tomaten so süß wie die Karamelbonbons, die man, wie übrigens auch Eiscreme, im Laden um die Ecke kaufen konnte –, schickte ihre Mutter sie wieder zur Schule, obwohl sie im Stoff Monate hinterherhinkte und das Schuljahr nur noch drei Wochen dauerte. Mrs. Sanders, die Lehrerin, wirkte irgendwie verändert, älter und dicker. An ihrer Nasenspitze hing stets ein Tropfen, und ihr Haar war schütterer und grauer, als Edith es in Erinnerung hatte. Das Klassenzimmer erschien ihr kleiner, die Pulte waren geschrumpft, und die Karte der Vereinigten Staaten, die die Wand neben der Tafel zierte, sah mitgenommener und verblichener aus. Auch ihre Klassenkameradinnen erkannte sie kaum wieder. Aber es waren ihre Klassenkameradinnen, junge Menschen, Mädchen in ihrem Alter, und was sie von ihren Kleidern oder ihrem Auftreten hielten und ob sie sie links liegenließen oder nicht, war an diesem ersten Tag eigentlich unwichtig – es war schon genug, sie zu sehen und zu hören, in der Schule an einem Pult zu sitzen, während Mrs. Sanders monoton dozierte und dabei klang, als sänge sie in der falschen Tonart.
Die anderen wollten wissen, wo sie gewesen war und wie es ihr dort gefallen hatte, doch sie fühlte sich eingeschüchtert, war überwältigt von den vielen Gesichtern und der
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