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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nur in Ruhe gelassen werden.«
    Beim Abendessen waren sie zu dritt: Edith, ihr Stiefvater und Adolph. Ida servierte – Rinderbraten mit Bratkartoffeln und gedünstetem Gemüse, als Dessert Zitronenkuchen –, und als die Schüsseln auf dem Tisch standen und die Gläser gefüllt waren, nahm Ida eine Portion für sich und ging damit in die Küche. Ediths Stiefvater fragte nicht nach der Schule oder ob sie pünktlich nach Hause gekommen sei. Er war bester Stimmung, sein Glas war dunkel von dem Whiskey aus der Flasche, die, für alle sichtbar, auf dem Tisch stand, und auch Adolphs Glas war dunkel. Das Thema des Abends waren die Geschäfte, und die könnten, wenn sie es recht verstand, nicht besser gehen. Die Wollpreise waren gestiegen, sie hatten Gewinn gemacht, mehr, als sie hatten erhoffen können, und ihr Stiefvater griff nach der Flasche, um sich selbst und Adolph nachzuschenken. Von oben, durch die geschlossene Tür des Zimmers ihrer Mutter, kam das sägende Rasseln eines Hustens, der nicht aufhören wollte.
    Sie hielt während des ganzen Essens den Kopf gesenkt und las heimlich in dem halb unter der Serviette verborgenen Buch auf ihrem Schoß, stellte aber fest, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Sie war besorgter, als sie zugeben wollte, das Bild ihrer Mutter, die sie von sich stieß, überlagerte alles andere: die Schule, die Heimkehr, ihre Freude über das Hotel und die Moden der feinen Damen. Sie sagte nur etwas, wenn ihr Stiefvater sie ansprach – »Schmeckt dir der Braten? Mal was anderes, hm? Ich weiß nicht, wie es dir geht, junge Dame, aber nach all dem Hammelfleisch könnte ich einen ganzen Ochsen verspeisen« –, und sobald das Essen vorbei war und Ida abgeräumt hatte, ging sie in die Küche. Ida stand mit dem Rücken zur Tür an der Spüle, ihre Arme und Schultern bewegten sich. Dampf stieg auf. Vor dem Fenster krochen die Sonnenstrahlen vorsichtig zwischen den rotgoldenen Blüten der Trompetenwinden hindurch, die am Spalier emporrankten.
    »Soll ich dir helfen?« fragte sie.
    Ida sah über die Schulter. Ihre Augen blitzten im Sonnenlicht und sprangen Edith förmlich an. »Das wäre nett. Dieses ständige Umziehen von einem Ort zum anderen macht mich fix und fertig. Ehrlich, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«
    Edith nahm ein Geschirrtuch, und Ida spülte einen Teller nach dem anderen – das beste Service ihrer Mutter, mit einem hübschen Rosenmuster, dessen bloßer Anblick eine Freude war – und reichte ihn ihr.
    »Und du? Wie war der erste Tag in der Schule?«
    »Schön.«
    »Schön? Mehr nicht? Sag bloß nicht, es ist nicht herrlich, mal jemand anders in deinem Alter zu sehen, jemand anders als Jimmie, der es ja vielleicht gut meint, der ja vielleicht – « Sie hob die Hände aus dem Spülwasser und zeichnete ein Bild in die Luft. Sie lachten.
    »Nein, nein, das will ich nicht sagen. Es ist nur so seltsam, nach all der Zeit wieder hierzusein. Alle sind so geschäftig.«
    Ida sah sie bedeutungsvoll an. »Aber das ist doch genau das, was du willst, oder? Ich jedenfalls hab mich da draußen auf der Insel gefühlt, als wäre ich halbtot, bin schier gestorben vor Langeweile. Heute morgen bin ich auf den Markt gegangen, bloß auf den Markt, bloß hin und wieder zurück, und ich kam mir vor wie im Himmel – und zwar getragen von Engeln.« Sie wollte noch mehr sagen, doch in diesem Augenblick ertönte von oben ein keuchendes Husten, und beide hielten inne und sahen zur Decke. »Deiner Mutter geht es heute anscheinend schlechter«, sagte Ida dann. »Das ist dieser Umzug, ich sag’s dir.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Feuchtigkeit auf dem Schiff ...«
    »Sie hat mich weggestoßen.« Edith versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten und sich darauf zu konzentrieren, den Teller, den sie in der Hand hielt, abzutrocknen und zu den anderen in den Schrank zu stellen, doch es gelang ihr nicht. »Sie hatte einen Anfall, draußen, im Sessel, gerade als ich nach Hause kam, und ich wollte doch nur ...« Sie spürte es aufwallen, all die Anspannung, die Angst und die Einsamkeit – ihre Mutter starb, sie starb schon seit langem, und wenn man erst einmal anfing zu sterben, war es, als würde man einen Hügel hinuntergeschleift, so dass die ganze Erde mitgerissen wurde. Bis ganz hinunter. Wo sie einen unter sich begrub. »Ich wollte doch nur helfen.«
    »Hör auf, ist doch nicht so schlimm, sie meint das nicht so.« Ida legte ihr die Hand auf die Schulter. Für einen Augenblick

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