Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
der Nacht, nicht mehr den weichen, beruhigenden Klang ihrer Worte, wenn sie am Kamin vorlas oder ein Gedicht rezitierte, das sie als junges Mädchen gelernt hatte. Ihr Stiefvater wollte sich ihr in den Weg stellen, doch sie stieß ihn beiseite und rannte durch den Flur, durch die offene Tür in das Zimmer, wo die Nachttischlampe brannte und es dennoch dunkel war, denn die Schatten überlagerten sich und das Blut war nicht rot, gar nicht rot, überhaupt nicht mehr rot, sondern so schwarz wie der Ort, wo man das, was von ihrer Mutter übrig war – die Hülle, die leere Hülle –, zur Ruhe betten würde.

DOUBLE EAGLE
    Im Dunkeln, allein in ihrem Zimmer, lauschte sie auf das Rascheln und Flüstern nebenan, wo ihre tote Mutter lag. Es waren sehr leise Geräusche: Schritte, das unvermittelte erschrockene Quietschen der Schranktür, das Seufzen einer geöffneten Schublade und das diskrete Rumpeln, mit dem sie wieder geschlossen wurde. Ida war dort drinnen und tat, was zu tun war. Sie hörte ihren Stiefvater im Flur auf und ab gehen – schwerere Schritte, aber leise, ganz leise, der dumpfe Klang eines in Mull gewickelten Hammers –, hörte die Stufen knarren, wenn er die Treppe hinunterging und wieder heraufkam, und seine gedämpfte Stimme. Dann nichts. Stillstand. Stille. Regen. Und dann setzte es wieder ein: geflüsterte Beileidsbekundungen, besorgte Fragen, Antworten, eine Tür, die geöffnet und geschlossen wurde, der einsame Rhythmus von Idas Schritten auf dem Schlafzimmerteppich. Edith versuchte, nicht daran zu denken, was diese Geräusche bedeuteten, konnte aber nicht anders: Ida putzte und richtete alles her. Und was bedeutete das? Dass sie den Leichnam für den Bestatter vorbereitete. Für das Grab.
    Aber war das nicht die Aufgabe einer Tochter? Sollte sie nicht bei Ida sein, Schulter an Schulter, Ellbogen an Ellbogen, Hüfte an Hüfte, sollte sie nicht mit Ida die blutigen Laken abziehen, den Leichnam entkleiden, das verkrustete Blut von den Lippen ihrer Mutter waschen? Ida hatte nein gesagt. Ida hatte nichts davon hören wollen. Ida hatte den Arm um sie gelegt und sie hinausgeführt, fort von dem zerwühlten Bett und dem Leichnam ihrer Mutter – und dem Blut, dem Blut, das überall war, selbst auf dem Bettgestell, dem Boden, der Wand –, und dann hatte sie die Tür leise geschlossen.
    Ihre Mutter war tot. Das war die Tatsache. Und das Schlimmste, schlimmer noch als der Verlust, war: Sie hatte sie nicht mehr gesehen, bevor der Herr sie zu sich gerufen hatte, und obgleich sie versuchte, sich ihre Mutter friedlich daliegend vorzustellen, an einem besseren Ort, wo es keinen Husten und kein Blut gab, keine schlaflosen Nächte, in denen sie trotz des dünnen Nachthemds schwitzte und Schleim in einen Becher spuckte, obwohl sie versuchte, sich ein Lilienfeld vorzustellen, weiße Wölkchen und Jesus, strahlend auf Seinem Thron, fand sie keinen Trost. Wenn der Herr so barmherzig war, warum hatte Er sie dann sterben lassen, bevor ihre Tochter bei ihr gewesen war? Warum hatte Er sie sterben lassen, als ihre Tochter so nah gewesen war, als sie im Regen verwirrt auf der Pier gestanden hatte, als sie mit klopfendem Herzen die Straße mit den verstopften Rinnsteinen entlanggeeilt war und ihr niemand angeboten hatte, sie mitzunehmen?
    Es war so knapp gewesen, eine Frage von Minuten nur. Wenn das Schiff schneller gewesen wäre, wenn es keinen Sturm gegeben hätte, wenn das Telegramm einen Tag, nur einen einzigen Tag früher gekommen wäre, dann wäre sie dagewesen, um ihre Mutter in den Armen zu halten, ganz gleich, wie sehr sie gehustet hätte, wieviel Blut sie gespuckt hätte, wie schwach sie gewesen wäre – sie hätte sie in den Armen gehalten und gesegnet und umgekehrt ihren Segen empfangen. Statt dessen war sie heimgekehrt zu einer Toten. Und schlimmer noch: Sie vergoss keine Träne und schlug sich nicht an die Brust wie Heathcliff in seiner Trauer um Catherine, sondern stand wie erstarrt da, denn sie konnte nicht hinnehmen, dass dies, dieses reglose, leblose, von Blut umrahmte Ding, ihre Mutter war. Das ist der Schock , hatte Ida gesagt. Jetzt lass uns hinausgehen, komm . Ida hatte sie zur Tür geführt, durch den Flur und zu einem Bett, zu diesem Bett, ihrem eigenen Bett, wo sie, als das Geflüster schließlich erstarb und Stille sich über das Haus legte, in einen abgrundtiefen schwarzen Schlaf fiel.
    Die Trauerfeier fand am darauffolgenden Nachmittag im Salon statt. Ihre Mutter lag steif im Sarg, die Augen

Weitere Kostenlose Bücher