Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Insel, wo ich ein Auge auf dich haben kann. Hast du gehört? Hast du mich verstanden?«
    Er schrie jetzt, doch sie ertrug es nicht, sie wollte nichts hören. Sie riss sich los, taumelte zurück und lief zur Tür, zur Haustür, und ihr einziger Gedanke war hinauszurennen, zu fliehen, damit das, was gerade geschah, aufhörte.
    »Und wenn du’s genau wissen willst: Wir brechen auf, sobald ich den Mietvertrag gekündigt und die Möbel untergestellt habe!« Und dann rief er ihr noch etwas nach – die Worte prasselten auf sie ein, als sie die Tür aufstieß und hinauslief in den Sonnenschein, der den Bürgersteig und die Bäume erglühen ließ: »Na los, heul dir die Augen aus. Aber pack deine Sachen. Und wag es nicht, mich je wieder einen Lügner zu nennen.«
    Sie lief weiter, durch das Tor und hinaus auf die Straße, ohne Hut, schluchzend, in Hausschuhen und ihrem einfachsten Kleid, und es war ihr gleichgültig, was irgend jemand denken mochte. Man sah sie erschrocken an und trat beiseite. Ein Junge, der ein paar Häuser weiter wohnte, ein Junge ihres Alters, den sie kaum kannte, rief ihr spöttisch etwas nach, aber sie verstand seine Worte nicht. Sie rannte an ihm und den anderen vorbei und wurde erst langsamer, als sie das Hotel Arlington erreicht hatte. Sie verließ den mit Steinplatten belegten Weg, ging über den Rasen und warf sich auf eine Bank im hintersten Winkel des Grundstücks, wo niemand sie sehen würde. Es dauerte lange, sehr lange, bis sie sich beruhigte und aufhörte zu weinen, und sie merkte, dass sie nicht mehr um ihre Mutter weinte, sondern um sich selbst, die vom Schicksal gestrafte Edith: Sie wollte lieber auf der Stelle sterben, sie würde sich lieber umbringen, als auf diese Insel zurückzukehren. Ja, das würde sie tun. Sie würde Gift schlucken. Sich die Pulsadern aufschneiden. Wie Kleopatra eine Schlange nehmen – und wenn sie keine Viper fand, dann eben eine Klapperschlange mit von Gift triefenden Fangzähnen und einem wütend rasselnden Schwanz – und an die Brust pressen und ihren Biss empfangen wie den Kuss eines Liebenden. Er konnte ihr das nicht antun. Er hatte nicht das Recht dazu. Sie war beinahe siebzehn, und obendrein war er nicht ihr echter Vater.
    Ihre Nase war verstopft, ihr Gesicht sah schrecklich aus. Sie klopfte die Taschen nach einem Taschentuch ab, doch da war keins. Sie hatte nichts, nicht einmal einen Kamm. Diese Erkenntnis – sie war hilflos, absolut hilflos, sie hatte nicht einmal einen Kamm – ließ sie erneut losweinen. Sie konnte nicht aufhören, sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Kummer brach sich Bahn, und weit und breit war niemand, der es sah oder Anteil nahm. Ihre Mutter war tot, tot, tot, ihr Stiefvater war ein Tyrann, und ihr Leben war vorbei, bevor es wirklich begonnen hatte. Alles war sinnlos.
    Schließlich ließ etwas – ein leises Wispern im Gras, murmelnde Stimmen? – sie aufsehen. Vor ihr stand ein junges Paar – sehr jung, höchstens vier, fünf Jahre älter als sie selbst – und sah sie beunruhigt an. Die beiden waren sehr gut gekleidet, à la mode , die Frau – das Mädchen – trug einen Mousselinschleier und einen breitkrempigen, mit Federn verzierten Hut, und ihre Gesichter waren starr vor Schreck. In einem Sekundenbruchteil sah sie es vor sich: Die beiden waren hierhergekommen, zu dieser Bank in einer von Jasmin umrankten Laube, um miteinander zu schmusen, und da saß sie, verheult, mit wirren Haaren, in Hausschuhen und ihrem schlichtesten Hemdblusenkleid, und ließ sich gehen. Sie war jämmerlich. Sie war nicht einmal ihrer Geringschätzung wert.
    Der Mann sagte etwas. Er fragte sie, ob sie Hilfe brauche, aber sie schämte sich so sehr, dass sie nur den Kopf schütteln konnte. Die beiden wechselten einen Blick. Warum konnten sie sie nicht in Ruhe lassen, warum suchten sie sich nicht eine andere Bank oder ein anderes Hotel, warum machten sie keinen Strandspaziergang oder gingen auf die Pier, um sich die Schiffe anzusehen wie die anderen Touristen? Warum verschwanden sie nicht einfach?
    Der Mann versuchte es noch einmal und beugte sich vor, bis sein Schatten über sie fiel. »Sind Sie sicher? Können wir irgend etwas für Sie tun?«
    Und jetzt sagte die Frau: »Gibt es jemand, den wir holen können? Ihre Mutter vielleicht? Sollen wir Ihre Mutter holen?«
    Und der Mann: »Sind Sie Gast im Hotel?«
    Sie schluchzte noch immer, sie konnte gar nicht mehr aufhören, aber es gelang ihr aufzustehen. Wortlos

Weitere Kostenlose Bücher