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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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dass sie heirateten, reich heirateten –, doch für Edith war es anders: Dies war ihre Gelegenheit zur Flucht vor dem Alltäglichen, vor Ranches und Staub, vor einer sterbenden Mutter und einem Stiefvater, der nur an sich selbst dachte. Und obgleich sie anfangs eine Außenseiterin war – die meisten anderen Mädchen kannten einander bereits seit der Grundschule und hatten ihre Cliquen und Freundeskreise –, fand sie schon bald ihren Platz. Gegen Ende des ersten Halbjahrs hatte sie in allen Fächern gute Noten und war mit Abstand die beste Tänzerin und Sängerin in ihrer Klasse. Ihr Französisch – die Sprache des Balletts – war zwar noch immer beschränkt ( Cher Maman, J’espère que vous allez bien ) und ihr Deutsch kaum besser, doch beides verbesserte sich durch gewissenhaftes Lernen, und Miss Everton persönlich erklärte Ediths Darbietung als Porzia in der gemeinsam mit der St. Basil’s Academy veranstalteten Schulaufführung des Kaufmanns von Venedig zur besten des Jahres.
    So vergingen Winter und Frühjahr. In den Sommerferien fuhr sie nach Hause, und dann begann das nächste Schuljahr, und wenn sie sich um ihre Mutter sorgte – und das tat sie –, so geschah es aus der Ferne. Jeden Abend, wenn die Lichter gelöscht waren, sah sie das Gesicht ihrer Mutter in der Dunkelheit über dem Bett schweben, und dann flüsterte sie ein Gebet und schloss die Augen. Wenn sie sie wieder aufschlug, war es Morgen, auf dem Korridor waren die anderen Mädchen zu hören, ihre Zimmergenossin schnarchte leise, und der Geruch von Toast, Speck und Rührei lag in der Luft. Und dann kamen der Unterricht, ein weiterer Tag, eine weitere Nacht, und alle Gedanken galten nur dem Augenblick. Wenn sie zu Hause war und sah, wieviel Kraft es ihre Mutter kostete, sich zu erheben, wie abgezehrt sie war und wie tief sich die Leidensfalten in ihr Gesicht gegraben hatten, konnte sie an nichts anderes denken.
    Dann, an einem regnerischen Nachmittag kurz vor Beginn der Weihnachtsferien, veränderte sich wieder alles. Sie war in der Klavierstunde bei Mr. Sokolowski, der die Angewohnheit hatte, den Takt mit der flachen Hand neben ihr auf der Klavierbank zu schlagen, in einem Tempo, das dem eigenen Gefühl vollkommen zuwiderlief (es war Chopins Nocturne Nr. 2 in Es-Dur, so schleppend, dass sie sich wie eine Schlafwandlerin vorkam), als Miss Everton in der Tür erschien. Mr. Sokolowski blickte auf, den Mund verärgert geöffnet. Edith hörte auf zu spielen, obgleich seine Hand noch die nächsten beiden Takte schlug. Miss Everton – sie war etwa so alt wie ihre Mutter, oder nein, älter, ganz in Lehrerinnengrau, und hatte das Haar so straff aufgesteckt, dass die Kopfhaut am Haaransatz weiß war – stand einfach da und wirkte ratlos. Hielt sie etwas in der Hand, ein zusammengefaltetes Stück Papier? Ja. Und noch bevor sie irgend etwas sagen konnte, wusste Edith bereits, was diese Unterbrechung zu bedeuten hatte. »Ist sie ...?« sagte sie.
    »In dem Telegramm steht nur, dass deine Mutter krank ist. Du sollst sofort nach Hause kommen.«
    Die Fahrt mit dem Schiff dauerte zwei Tage. Der Sturm, der an der Küste entlangfegte, wühlte das Meer auf, und alle anderen Passagiere waren seekrank. Der Geruch war widerwärtig – es kam ihr vor, als wäre sie in einem Zookäfig eingesperrt –, und weil es ununterbrochen regnete, konnte sie nicht an Deck gehen. Sie war noch nie seekrank gewesen – sie sei seetüchtig, hatte Captain Curner sie gelobt –, doch als der Gestank sich im Lauf der Zeit derart verdichtete, dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können, ging es ihr immer schlechter. Auf der Toilette – sie war verschmutzt, in der Ecke stand ein stinkender Mop, und jemand hämmerte verzweifelt an die Tür – ging sie in die Knie, beugte sich über die Schüssel und übergab sich, bis nichts mehr kam. Das Schiff schwankte und ächzte, als würde es gleich auseinanderbrechen. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Als sie schließlich wieder in ihrer Kabine war, lag sie willenlos da, unfähig, sich ihr Nachthemd anzuziehen, zu lesen, zu schlafen oder an irgend etwas anderes zu denken als das, was vor ihr lag.
    Ihre Mutter war krank, mehr wusste sie nicht. Aber ihre Mutter war schon lange krank – sie hatte Gewicht und Farbe verloren und mehr Blutstürze gehabt, als irgend jemand zählen konnte –, doch sie hatte sich jedesmal wieder erholt, denn sie war stark, die stärkste Frau, die es gab. Vielleicht war es einfach blinder

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