San Miguel: Roman (German Edition)
geschlossen, als schliefe sie, um die Lippen ein leises Lächeln, das der Bestatter dorthin fabriziert hatte. Der stand im Hintergrund, flankiert von zwei kleinen Jungen in Schwarz. Sie hielten schwarze Seidenzylinder in den Händen und musterten den Boden. Der Pfarrer war Edith fremd – ihre Mutter war keine Kirchgängerin gewesen, und so nahm sie an, dass ihr Stiefvater den Bestatter beauftragt hatte, den Mann mitzubringen. Die Trauergemeinde bestand aus ihr, ihrem Stiefvater, Adolph und Ida. Spitz zulaufende weiße Kerzen und Vasen mit Schnittblumen – darum hatte Ida sich gekümmert – verliehen dem Raum die Atmosphäre einer Kapelle, und der Pfarrer mit seinem vollen silbergrauen Haar und dem gestärkten Stehkragen stand ernst und hochaufgerichtet vor dem Sarg. Der Gottesdienst war kurz – die üblichen trostlosen Worte, die sie schon zweimal gehört hatte, als in San Francisco Freundinnen ihrer Mutter gestorben waren und sie in einer großen, erhabenen Kathedrale an Trauergottesdiensten mit Hunderten von Gästen, einem Chor und silbernen Weihrauchfässern teilgenommen hatten –, und danach gingen sie hinaus, wo es leicht regnete, und folgten dem Leichenwagen zum Friedhof auf dem Hügel über dem Meer.
Dort gab es noch mehr Worte – Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub –, schwarze Schirme und schwarze Pferde, und darüber kreisten Möwen und taten schreiend ihre Gleichgültigkeit kund. Ihr Stiefvater nahm die Schaufel des Totengräbers und warf den ersten symbolischen Erdklumpen auf den Sarg. In einem Kleid, das einst Ediths Mutter gehört hatte, stand Ida am Grab, ließ den Kopf hängen und schluchzte; Ediths Stiefvater legte ihr den Arm um die Schultern und stützte sie. Edith selbst war ins Herz getroffen und würde sich bis an ihr eigenes Lebensende an alle Einzelheiten dieses Tages erinnern, als wären sie ihr mit einem heißen Eisen eingebrannt, doch sie brach nicht weinend zusammen. Jeder konnte weinen. Jeder konnte sich die Haare raufen und mit dem Himmel hadern. Sie aber war eine Schauspielerin – oder wurde es an diesem Tag – und ging innerlich auf Distanz, damit sie sehen und hören und empfinden konnte, damit sie sich von dem Gott, der ihr dies angetan hatte, lossagen konnte. Ihre Miene war nüchtern und unbewegt, und auf ihren Schultern lastete unermessliche Trauer. Es gab einen Leichenschmaus, doch sie schmeckte nichts. Und schließlich ging sie zu Bett, doch sie schlief nicht.
Der nächste Tag war wie eine abbrechende Kliffkante, die krachend ins Meer stürzte, und auf ihn folgten weitere Tage. Ihr Stiefvater hängte einen Kranz an die Tür, aber es war kein Adventskranz, und als Weihnachten kam, gab es keine Feier, keine Geschenke, keine Lieder und nicht einmal ein festliches Mahl. Ida stellte etwas auf den Tisch und setzte sich zu ihnen, und dann aßen sie schweigend. Edith verbrachte die Tage auf ihrem Zimmer, obwohl es draußen mild und einladend war – wolkenlose Tage und sternklare Nächte, immergrüne Bäume, und die Blumen rechts und links des Wegs zum Tor winkten mit leuchtendorangeroten Blüten, als wollten sie leugnen, dass jedes lebende Wesen einen Preis zu zahlen hatte –, und dann kam der Neujahrstag, und das war die bitterste Zeit: der zweite Jahrestag ihres Umzugs auf die Insel. Das war es gewesen, was ihre Mutter umgebracht hatte, dessen war sie sich sicher. Wären sie in San Francisco – oder auch nur hier, in Santa Barbara – geblieben, dann wäre alles ganz anders gekommen. Gab sie ihrem Stiefvater die Schuld? Sah sie ihn mit offenem Mund sein Fleisch kauen, in der einen Hand das Messer, in der anderen das Whiskeyglas (er müsse seinen Kummer in Alkohol ertränken, behauptete er), und klagte sie ihn insgeheim an? Ja. O ja. Aus vollem Herzen.
Sie mochte nicht mit ihm sprechen, sie mochte mit niemandem sprechen, ihr Kummer war zu groß, aber als der Neujahrstag vorüber war und die Weihnachtsferien sich dem Ende zuneigten, ging sie zu ihm, als er, ein offenes Buch auf dem Schoß und das Glas in Reichweite, am Kamin saß, und reichte ihm den Fahrplan der Santa Rosa . »Ich glaube, am besten wäre das Boot morgen früh«, sagte sie. »Der Unterricht beginnt erst am Montag – dann hätte ich den Sonntag, um mich im Wohnheim wieder einzurichten. Wir könnten Miss Everton telegrafieren, damit sie jemanden schickt, der mich an der Pier abholt. Ich werde nicht viel Gepäck haben und kann zu Fuß zum Hafen gehen, dann brauchst du keine Kutsche zu
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