Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
bezahlen.«
    Hautschuppen hatten sich in seinen Koteletten verfangen, gelblich geränderte Partikel, die auch auf den Schultern lagen und im Schnurrbart hingen. Auf der Insel hatte er, obwohl ihre Mutter es verabscheut hatte, zumindest zeitweise einen Bart getragen – das Rasieren sei zu aufwendig, hatte er gesagt –, und der hatte die Hautunreinheiten verdeckt. Sie betrachtete ihn im Lampenlicht und sah die Verheerungen und Verwüstungen. Das ganze Gesicht war wie entflammt, als wäre sein ganzer Kummer nach außen gedrungen und hätte sich in den Poren der Haut festgesetzt, und sie spürte Mitgefühl aufwallen: Er trauerte wirklich, er trauerte ebensosehr wie sie. Er sah von seinem Buch auf und richtete den Blick auf sie: graue Augen, so grau wie Rauch, der über einer Wasserfläche dahintrieb. »Darüber wollte ich mit dir reden«, sagte er.
    Sie sagte nichts. Sie stand im Schein der Lampe da und sah ihn aufmerksam an: das verquollene Gesicht, die grobporige Nase, die rosige Kopfhaut dort, wo das weiße Haar schütter wurde.
    »Also«, sagte er und legte den Finger als Lesezeichen in das Buch, »um es kurz zu machen: Ich habe beschlossen – und deine Mutter hat mir, bevor sie gestorben ist, darin zugestimmt –, dass du nicht wieder zur Schule gehen wirst.«
    »Was? Wie meinst du das? Es ist die Schule, meine Schule, ich muss wieder dorthin.«
    Für einen langen Augenblick sah er sie nur an. »Ich weiß nicht«, sagte er schließlich und bedachte sie mit einem Lächeln – oder der Imitation eines Lächelns –, das sie erschauern ließ. »Wenn du mich fragst, gehört ein Mädchen ins Haus – besonders, wenn es sich um ein Haus wie dieses handelt, wo sich eine Tragödie ereignet hat, vor so kurzer Zeit, dass noch keiner von uns ihre Tragweite ganz erfasst hat.«
    »Aber ... aber« – sie war wie vor den Kopf geschlagen, sie bettelte –, »Miss Everton erwartet mich. Mr. Sokolowski und die anderen auch. Meine Sachen sind dort. Meine Hefte. Meine Bücher.«
    »Das ist schon geregelt.«
    »Geregelt? Was meinst du damit?«
    Er ließ sich Zeit, setzte sich im Sessel zurecht und sah sie unverwandt an. »Weißt du was?« sagte er, doch es klang nicht wie eine Frage. »Dein Ton gefällt mir nicht.« Und dann setzte er hinzu: »Junge Dame«, als wäre er ihre Mutter, als spräche er an ihrer Stelle und mit ihrer Stimme, doch es klang hohl und anmaßend.
    Er starrte sie noch immer an. Seine Augen blickten jetzt härter, und sie hätte es besser wissen sollen, sie hätte gehen und warten sollen, bis er zugänglicher war, aber sie konnte nicht anders. »Meine Mutter hätte dazu niemals ja gesagt. Ich glaube dir nicht. Sie wollte, dass ich eine höhere Schulbidung kriege, das weißt du genau. Du bist ein Lügner!«
    Er sprang so plötzlich auf, dass sie keine Zeit hatte zu reagieren. Das Buch fiel zu Boden, der Mund war verzerrt, und sie roch seinen nach Whiskey riechenden Atem, seinen verhassten, stinkenden Atem. »Nein«, sagte er, »ich bin kein Lügner. Jedes Wort, das ich spreche, ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit – die Wahrheit, die von jetzt an dein Leben bestimmt. Du wirst nicht in dieser Stadt leben, wo niemand auf dich aufpasst, auf dich und deine ... deine Verehrer .«
    »Aber Miss Everton hat nie – «
    »Genug! Du hörst mir gut zu und gehorchst, denn solange du unter meinem Dach lebst, wirst du in allen Dingen genau das tun, was ich dir sage, und Miss Everton kannst du dir ein für allemal aus dem Kopf schlagen.« Er wandte sich wütend ab, ging durch den Raum und stellte das Glas auf dem Kaminsims ab. Seine Hand zitterte. Sie dachte an Ida – wo war Ida? Ida würde ihr beistehen, Ida wusste, was ihre Mutter gewollt hatte. Aber Ida war in der Küche oder im Garten, und selbst wenn sie anwesend gewesen wäre, hätte das keinen Unterschied gemacht, denn Ida war nur ein Dienstmädchen und hatte schon deshalb nichts zu sagen.
    Es war totenstill im Haus, jedes Staubkörnchen verharrte schwebend in der Luft. Der offene Kamin rahmte ihn ein, den großen, kantigen Hinterkopf, der sich wie aus Stein gemeißelt über dem Kragen erhob, die breiten Schultern, zu breit für das schlecht geschneiderte Jackett. Im nächsten Augenblick fuhr er herum, stand mit einem Schritt vor ihr und packte sie am Handgelenk. »Miss Everton«, sagte er verächtlich. »Miss Everton ist vollkommen unwichtig. Ebenso wie Mrs. Sanders und der Musiklehrer und der ganze Rest. Denn Tatsache ist, dass ich dich mitnehme auf die

Weitere Kostenlose Bücher