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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Alarm. Vielleicht hatte sie wieder einen Blutsturz gehabt – das war schlimm, ja, aber so etwas hatte ihre Mutter auch früher schon überlebt. Das war es, was sie glauben wollte, und sie kämpfte gegen die innere Stimme an, die ihr sagte, dass sie sich etwas vormachte, denn warum hätte man sie von der Schule beurlauben und ihr telegrafisch Geld für die Schiffspassage anweisen sollen, wenn es nicht zu einer lebensbedrohenden Krise gekommen war? Und dann der noch schlimmere Gedanke: Was, wenn sie zu spät kam? Was, wenn ihre Mutter bereits tot war – oder in diesem Augenblick im Sterben lag?
    Am Morgen des zweiten Tages war ihre Kehle rauh. Edith war durstiger als je zuvor in ihrem Leben, aber jedesmal, wenn sie einen Schluck Wasser trank, musste sie ihn umgehend wieder von sich geben. Die Frau in den Kojen gegenüber erbarmte sich ihrer und schenkte ihr ein paar Kekse, damit ihr Magen sich beruhigte. Sie brach sie in Stücke, die sie einzeln zerkaute, doch sie verwandelten sich in eine klebrige Paste, die sie nicht hinunterschlucken konnte. Irgendwann sagte jemand, sie führen gerade an San Miguel vorbei, doch sie hob nicht einmal den Kopf.
    Es war niemand da, der sie erwartete. Sie hatte gedacht, Ida würde kommen, wenigstens Ida, und die Tatsache, dass weder sie noch ihr Stiefvater erschienen waren, erfüllte Edith mit dunklen Vorahnungen. Im Regen stand sie allein auf der Pier. Ihr war schwindlig, die anderen Passagiere strömten an ihr vorbei, und der Geruch des Meers war so überwältigend, dass sich ihr schon wieder der Magen umdrehte. Überall waren Menschen, Gesichter tauchten in der Menge auf, fremde Augen taxierten sie, als wollten sie Besitz von ihr ergreifen und sie in ihrer Trauer, Angst und Not erkennen, bevor sie einfach durch sie hindurchsahen, und sie kannte keinen einzigen von ihnen. Adolph, wo war Adolph? Wo war irgend jemand, den sie kannte? Schließlich packte sie mit der einen Hand den Schirm, mit der anderen den Koffer und machte sich auf den acht Blocks weiten Weg.
    Es war eine Mühsal, die Straßen waren schmutzig, die Rinnsteine voller Abfall, Zigarrenstummel, Papiertüten, Blätter, Zweige, Pferdeäpfel. Kutschen knarzten vorbei, doch niemand bot ihr an, sie mitzunehmen. Es regnete stark. Sie schritt aus, sie beeilte sich, geriet außer Atem, sie ging, so schnell sie konnte, ihre Schuhe waren durchnässt, ihre Füße kalt, der Saum ihres Kleids – das sie schon vor zwei Tagen und einer Nacht, als sie von Miss Everton aufs Schiff gebracht worden war, getragen und seither nicht ausgezogen hatte – war vollkommen verschmutzt. Ihr Haar löste sich, und der Hut stieß gegen die Rippen des Schirms. Sie dachte nur daran, was ihre Mutter sagen würde, wie ungehalten sie sein würde. Du wirst dich auf der Stelle umziehen, junge Dame, und überhaupt: Komm mal her und gib mir die Bürste, dein Haar sieht einfach grauenhaft aus .
    Sie ging durch den Vorgarten, eine einzelne Lampe brannte im Fenster zur Straße, der Regen strömte vom Vordach, und dann stand sie vor der Tür und ließ Schirm und Koffer einfach fallen. »Hallo?« rief sie. »Ist jemand da? Mutter? Ida?« Der Kater – Marbles – saß auf dem Schemel am Kamin und fuhr erschrocken herum, bevor er auf den Boden sprang und im Schatten unter dem Sessel verschwand. Sie sah, dass das Feuer heruntergebrannt war. Auf dem niedrigen Tisch neben dem Sessel stand eine halbvolle Teetasse neben einem aufgeklappt nach unten liegenden Buch – etwas, das ihre Mutter niemals dulden würde. Du ruinierst das Buch, Edith. Denk an den Buchrücken. Denk an die Kosten . »Hallo?« rief sie nochmals und ging langsam zur Treppe.
    Schritte, eine Tür, die aufgerissen wurde, und dann stand Ida am Kopf der Treppe. »Bist du das, Edith?«
    Sie wollten ihr den Anblick ersparen. Auf der Treppe versuchte Ida, sie zurückzuhalten, ihr Stiefvater trat mit verschränkten Armen und leerem Blick aus dem oberen Schlafzimmer, und auch der Mann neben ihm, der Arzt, der Arzt mit seiner großen schwarzen Tasche und den blitzenden Brillengläsern und dem vollkommen stumpfen, reglosen Gesicht, riet ihr, nicht hineinzugehen, noch nicht, sondern zu warten, bis man alles hergerichtet habe, doch das kam nicht in Frage, sie wollte es nicht hören, sie riss sich von Ida los und rannte die Treppe hinauf, erfüllt nur von einem einzigen Gedanken: dass ihre Mutter bereits tot war, tot, gestorben, ausgelöscht, und dass sie ihre Stimme nie mehr hören würde, nicht mehr das Husten in

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