Sanctus
verschränkte ihre manikürten Finger über der strahlend weißen Serviette. »In den ältesten Aufzeichnungen in diesem Land ist von dem Konflikt zwischen zwei Stämmen die Rede. Beide strebten die Herrschaft hier an. Einer dieser Stämme hieß Jahwe. Sie lebten in Höhlen in einem Berg, in dem sie angeblich eine heilige Reliquie beschützten, die ihnen große Macht verlieh. Selbst in jenen prähistorischen Zeiten verehrten oder fürchteten andere Stämme sie so sehr, dass sie Pilgerfahrten zu dem Berg unternahmen und den Göttern Korn und Vieh opferten, von denen sie glaubten, dass sie dort lebten.
Mit der Zeit entwickelte sich so eine Stadt, die dank der Pilger blühte, die ihre Opfergaben brachten und von dem wundersamen Wasser tranken, das aus der Erde quoll und allen, die davon tranken, ein langes Leben bescheren sollte. Bald entstand eine Kirche, die sich um die weltlichen Belange der Zitadelle kümmerte und das Wort Gottes predigte, wie es in schriftlicher Form aus dem Berg kam. In diesen Schriften wurde der Name Gottes YHWH geschrieben, also Jehova oder Jahwe – der gleiche Name wie der Stamm. Sie beschrieben, wie die Welt entstanden ist und wie der Mensch auf sie kam. Jeder, der dieser offiziellen Lehre widersprach, wurde als Ketzer gebrandmarkt und von erbarmungslosen Priesterkriegern zur Strecke gebracht, die unter dem Banner der Zitadelle ritten.« Sie deutete auf das Tau. »Dem Tau. Dem Einen Wahren Kreuz. Das Tau ist das Symbol der Reliquie, die ihnen Macht über alle anderen gegeben hatte. Das Symbol des Sakraments.«
*
Cornelius blieb vor dem Tor stehen, das auf den großen Platz führte, und klappte das Notebook auf, um das Signal zu überprüfen. Sein Pfeil war näher gekommen, doch derjenige der jungen Frau befand sich noch immer an derselben Stelle.
Cornelius blickte die steile Straße zurück zu Kutlar. Der Mann war gut fünfzehn Meter hinter ihm und quälte sich steif den Hang hinauf. Sein Hemd war nass von Schweiß.
Cornelius würde ihn mit der schallgedämpften Waffe in seiner Tasche töten, sobald er seine Aufgabe erfüllt und die Frau identifiziert hatte. Anschließend würde er ihn einfach auf eine Bank am Graben legen. Das würde die Frau hoffentlich so sehr einschüchtern, dass sie ihm widerstandslos folgen würde; aber für den Notfall hatte er auch eine Spritze mit Haldol dabei. Cornelius wartete, bis Kutlar ihn fast eingeholt hatte; dann schaute er noch einmal auf den Bildschirm. Die Frau hatte sich noch immer nicht bewegt. Er schloss das Notebook, steckte es in seinen Rucksack und ging durchs Tor.
K APITEL 93
Liv schaute auf das Tau. Auf dem Flug hierher hatte sie viel über das Sakrament gelesen, doch sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass das etwas mit dem Tod ihres Bruders zu tun haben könnte.
»Dass Ihr Bruder dieses Symbol auf dem Arm trägt, heißt, dass er das Sakrament kennt«, fuhr die Wissenschaftlerin fort. »Er hat vielleicht versucht, dieses Wissen zu teilen.«
Liv erinnerte sich daran, was Arkadian gesagt hatte: Löse das Geheimnis des Sakraments, dann löst du auch das Geheimnis um Samuels Tod. Sie blickte Dr. Anata in die Augen. »Sie haben sich doch sicherlich auch schon Gedanken darüber gemacht, was das Sakrament sein könnte«, sagte sie.
Miriam schüttelte den Kopf. »Wann immer ich glaube, dem Geheimnis einen Schritt näher gekommen zu sein, entgleitet es mir wieder. Es ist nicht das Kreuz Christi, wie manche Leute glauben. Verglichen mit dem religiösen Orden in der Zitadelle ist Christus ein Newcomer. Also ist es auch nicht die Dornenkrone, die Heilige Lanze oder der Heilige Gral, aus dem er getrunken hat. All das sind Mythen, die die Zitadelle über Jahrhunderte hinweg auch immer weiter geschürt hat, um die wahre Identität des Sakraments zu verbergen.«
»Woher wissen wir dann überhaupt, dass es existiert«, fragte Liv, »wenn niemand es je gesehen hat?«
»Man kann die größte Religion der Welt nicht einfach auf ein Gerücht gründen.«
»Nicht? Denken Sie doch mal darüber nach. Sie haben da diese beiden urzeitlichen Stämme, die sich bekämpfen. Um die Oberhand zu gewinnen, verschanzt sich einer davon in diesem Berg und behauptet, eine göttliche Waffe zu haben. Vielleicht kommt dann eine Dürre oder eine Sonnenfinsternis, und sie erklären, dafür verantwortlich zu sein. Die Menschen beginnen daraufhin, an diese Macht zu glauben, und sie behandeln die Bergbewohner wie Götter. Denen gefällt das natürlich, und sie halten den
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