Sanctus
doch sie steckte es wieder weg und beschloss stattdessen, die Stadt für ein paar Tage zu verlassen. Sie konnte das Gerät später immer noch loswerden – je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten. Wenigstens war die Frau jetzt in Sicherheit. Das war die Hauptsache.
*
Das Motorrad rumpelte über die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen und um die Touristen und Marktstände herum. Liv trug keinen Helm, und der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht, während sie sich an Gabriel festklammerte. Sie konnte seine Muskeln unter der Kleidung spüren, und jedes Mal, wenn das Motorrad einen Satz machte oder wegzurutschen drohte, drückte sie sich mit aller Kraft an ihn. Der Geruch, der ihr schon aufgefallen war, als sie sich vierundzwanzig Stunden zuvor zum ersten Mal begegnet waren, hüllte sie nun vollends ein, und jetzt erkannte sie auch, dass es sich dabei nicht um ein Parfüm handelte; er duftete einfach so von Natur aus, wunderbar.
Liv hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren, und sie kannte auch den Mann nicht wirklich, an den sie sich gerade klammerte; dennoch fühlte sie sich bei ihm so sicher, wie schon seit Tagen nicht mehr. Dabei hatte sein Drängen etwas Zwingendes gehabt. Er hatte ihr das Gefühl vermittelt, alles was er tat, tue er nur für sie; dass ihre Sicherheit seine einzige Sorge war. Und er gehörte zu den Mala, und wenn das, was Dr. Anata gerade erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, dann war das Mindeste, was Liv tun konnte, diesen Sprung des Glaubens zu tun und in die Richtung zu gehen, die ihr Bruder ihr gewiesen hatte.
Außerdem , dachte sie, als das Motorrad durchs Westtor raste, was soll ich denn sonst tun?
K APITEL 96
Arkadian saß auf dem Beifahrersitz eines Zivilstreifenwagens und schaute auf den Stau, als die Telefonzentrale sich meldete.
»Städtische Polizei.«
»Jaja, könnten Sie mich bitte zu Unterinspektor Mantus durchstellen«, sagte er.
»Und wer ist da bitte?«
»Inspektor Arkadian.«
Die Stimme der Telefonistin wurde durch eine piepsige Version von Vivaldis Vier Jahreszeiten ersetzt. Als die Telefonistin sich wieder meldete, waren sie schon eine ganze Wagenlänge vorwärtsgekommen.
»Tut mir leid, aber er geht nicht an seinen Apparat.«
»Okay, können Sie mich dann mit seinem Handy verbinden?«
Diesmal erklang keine Musik, sondern ein Anrufbeantworter sprang sofort an. Wo zum Teufel steckt der Kerl? »Arkadian hier«, sprach der Inspektor gereizt auf Band. »Rufen Sie mich umgehend zurück.«
Er legte auf und starrte weiter auf die mit Autos verstopfte Straße. Er hatte Sully sofort angerufen, als er den Übertragungswagen vor der Leichenhalle entdeckt hatte. Im Fernsehen hatte er dann gesehen, wie Sully Liv förmlich an den Kameras vorbeigezerrt und wie eine Verdächtige in den Wagen gestopft hatte. Er würde diesem verdammten Bastard den Arsch aufreißen, wenn er ihn in die Finger bekam. Vielleicht dachte Sully sich das ja schon und ging deshalb nicht ans Telefon. Das Handy summte in seiner Hand. »Sully?«
»Nein, Reis hier. Ich habe Neuigkeiten für Sie.«
Arkadian stieß frustriert die Luft aus. »Sind es gute Neuigkeiten?«
»Sie sind ... faszinierend. Ich bin gerade ins Labor geschlichen und habe mir mal den genetischen Fingerabdruck angeschaut. Ich habe die Probe der Frau mit der des Mönchs verglichen. Die Elektrophorese ist halb durch, aber ich habe sie trotzdem fluoresziert, um zu sehen, wie die Stränge sich teilen.«
»Ich habe keine Ahnung, was das heißt. Sagen Sie mir einfach, ob es Übereinstimmungen gibt.«
»Die Tests sind zwar bei weitem noch nicht abgeschlossen, aber es gibt da mehr als nur Übereinstimmungen. Die beiden Proben sind vollkommen identisch, und das ist seltsam.«
»Warum? Das passt doch zu Adamsens Story.«
»Jaja, aber ich habe damit gerechnet, dass die Frau nicht die Schwester des Mönchs ist.«
»Warum das denn?«
»Weil es nicht einen dokumentierten Fall gibt, wo siamesische Zwillinge von unterschiedlichem Geschlecht sind. Genetisch betrachtet müssen sie sogar das gleiche Geschlecht haben, weil sie genau genommen eine Person sind.«
»Dann ist das also unmöglich?«
Reis hielt kurz inne. »Medizinisch gesprochen ist es zumindest sehr unwahrscheinlich.«
»Aber nicht unmöglich?«
»Nein. Es gibt viele dokumentierte Fälle von Menschen mit beiden Geschlechtsmerkmalen – Hermaphroditen zum Beispiel – und angesichts der religiösen Implikationen dieses Falls ... Nun ja, ich glaube, wenn man schon an die Jungfrauengeburt
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