Sanctus
»Wie haben Sie mich erkannt?«
»Ich bin gerade aus einem Nachrichtenstudio gekommen«, antwortete die Frau und beugte sich verschwörerisch vor. »Und Sie, meine Liebe, sind die Topstory heute.«
Liv schaute sich nervös um. Die Aufmerksamkeit der Menge war im Augenblick zwischen dem Berg und der stummen Frau mit den ausgestreckten Armen aufgeteilt. Liv war uninteressant.
»Sollen wir an einen ruhigeren Ort gehen?«, schlug Dr. Anata vor und deutete zu einer kleinen Armee von Plastiktischen vor einer ganzen Reihe von Cafés.
Liv schaute noch einmal zu dem Schrein zurück, der die Stelle markierte, an der ihr Bruder gestorben war; dann nickte sie und folgte Miriam.
*
Der Van hielt an der Mauer der Altstadt, nicht weit vom Südtor. Cornelius schaute auf den Bildschirm. Der Pfeil bewegte sich nicht, sondern deutete auf eine Stelle am alten Graben. Die junge Frau hatte sich seit mehreren Minuten nicht mehr bewegt.
Cornelius stieg aus und hielt die Tür auf. Kutlar schloss das Notebook, gab es Cornelius und rutschte steif über den Sitz, um ebenfalls auszusteigen. Bis zum Boden war es nicht weit, aber in dem Moment, als sein Bein den Bürgersteig berührte, hatte Kutlar das Gefühl, man habe ihm erneut ins Bein geschossen. Er biss die Zähne zusammen und spürte, wie ihm der Schweiß in sein Hemd lief; aber er wollte in keinem Fall schwach erscheinen. Er hielt sich an der Tür fest und zwang seine Beine, sich zu strecken. Cornelius wartete.
Kutlar griff in seine Tasche und holte die Pillen heraus, die er sich die letzten paar Stunden verweigert hatte. Er schraubte die Flasche auf und schüttete ein paar Kapseln in seine feuchte Hand. Auf dem Etikett stand, er solle eine alle vier Stunden nehmen. Kutlar warf sich jedoch gleich zwei in den Mund und hätte fast gewürgt, als er sie trocken herunterschluckte.
Kutlar schaute an Cornelius vorbei zum Südtor. Die Frau war irgendwo in der Altstadt, und er war derjenige, der wusste, wie sie aussah. Allerdings waren Fahrräder die einzigen Fahrzeuge, die hier erlaubt waren; also würden sie zu Fuß durch die antiken Straßen gehen müssen. Kutlar stopfte sich die Pillen wieder in die Tasche, ließ die Tür los und humpelte zum Ticketschalter am Tor. Auf halbem Weg war sein Bein bereits taub.
K APITEL 92
Das Café war brechend voll, obwohl es ein Stück vom Graben entfernt lag. Es war nicht ganz so populär, weil man von hier keinen direkten Blick auf die Zitadelle hatte; doch auch hier fühlte man ihre Gegenwart wie einen heraufziehenden Sturm. Liv saß der Gelehrten gegenüber und ein wenig abseits und mit dem Gesicht zur Wand. Ein junger Kellner in weißer Schürze nahm ihre Bestellungen auf.
»So«, sagte Miriam, kaum dass der Mann außer Hörweite war, »wie kann ich Ihnen helfen?«
Liv legte ihr Notizbuch auf den Tisch. Sie hatte noch immer die Karte in der Hand, die sie zwischen den Blumen gefunden hatte. Sie drehte sie um und las die Worte noch einmal:
T
Mala
Märtyrer
»Wie wäre es erst einmal damit?« Sie schob die Karte über den Tisch. »Was heißt das?«
»Gerne«, erwiderte Miriam. »Aber zuerst müssen Sie mir etwas sagen.« Sie deutete auf das T. »Sie haben gesagt, Sie hätten Zeichen auf dem Körper Ihres Bruders gesehen. War das eines von ihnen?«
Liv blätterte zur ersten Seite in ihrem Notizbuch, drehte es um und zeigte Miriam die Zeichnungen, die sie von Samuels Körper angefertigt hatte. »Es war in seinen Arm eingebrannt«, sagte sie.
Miriam starrte auf das Netz aus Narben, vollkommen fasziniert von ihrer wilden Schönheit. Als der Kellner ihre Getränke brachte, klappte sie das Notizbuch rasch zu. »Das nennt man ein Tau«, erklärte sie, als der Mann wieder weg war. »Das ist ein sehr mächtiges und altes Symbol, so alt wie dieses Land, das seinen Namen angenommen hat.«
Liv runzelte die Stirn. Was hatte ›Türkei‹ denn mit ›Tau‹ zu tun?
»Ich rede von dem Land, auf dem die Zitadelle steht«, sagte Dr. Anata, der Livs Verwirrung nicht entgangen war. Sie nickte zu den Gipfeln hinüber, die jenseits der Stadt zu sehen waren. »Das Königreich des Tau.«
Liv folgte ihrem Blick und erinnerte sich daran, was sie in ihrem Reiseführer gelesen hatte. »Das Taurusgebirge«, sagte sie. Plötzlich hatte die erste Silbe eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Dr. Anata nickte. »Um die Wichtigkeit des Tau wirklich verstehen zu können und was es für diesen Ort bedeutet, bedarf es einer kleinen Geschichtsstunde.« Sie beugte sich vor und
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