Sanctus
Weihe zum Sanctus stand schon fest, als ich ... entdeckt wurde.«
Liv schüttelte den Kopf. Sie erinnerte sich an die Hintergrundinformationen, die sie über diesen Ort gelesen hatte. »Aber ich dachte, es sei noch nie jemand aus der Zitadelle gekommen.«
»O doch, aber niemals für längere Zeit. Flüchtlinge werden erbarmungslos gejagt und zum Schweigen gebracht. Was Sie hier vor sich sehen«, sagte er, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, während er seinen Pullover zusammenfaltete, »ist ein toter Mann.« Vorsichtig legte er den Pullover auf seinen Schoß und strich ihn glatt. »Kennen Sie die Geschichte vom Trojanischen Pferd?«, fragte Oscar und schaute wieder auf.
Liv nickte. »Ein klassisches Beispiel dafür, wie man eine Belagerung erfolgreich zum Abschluss bringt.«
»Exakt. Genau wie die frustrierten Griechen vor Troja, so hat auch unser Volk beschlossen, das Uneinnehmbare mit List statt mit Kraft zu erobern und das heilige Mandat des Sakraments zurückzuholen. Also haben wir uns ein Trojanisches Pferd ausgedacht.«
»Sie!«
»Ja. Sie haben mich Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Waisenhaus gefunden. Keine Eltern. Keine Geschwister. Keine Verwandten, egal welcher Art. Der perfekte Hintergrund, um für die Bruderschaft in Betracht gezogen zu werden. Mit vierzehn Jahren habe ich dann die Zitadelle betreten mit dem Ziel, die Identität des Sakraments zu enthüllen und mit diesem Wissen im Gepäck aus dem Berg zu fliehen.
Es hat mich drei Jahre gekostet, um auch nur in die Nähe des Sakraments zu kommen. Die meiste Zeit über habe ich in der riesigen Bibliothek gearbeitet und die Neueingänge sortiert. Eines Tages kam dann eine Kiste mit Fundstücken von einer Grabung in Ninive. Der Kiste lag eine Dokumentation bei, in der es hieß, darin würden sich Fragmente eines verbotenen Buches mit Bezug auf das Sakrament befinden. Ich habe eines der größeren Fragmente gestohlen, bevor der Chefbibliothekar bemerkte, was in der Kiste war, und mich mit einer anderen Aufgabe betraute. Als ich allein war, habe ich mir das Stück angeschaut, doch es war in einer Sprache geschrieben, die ich noch nie gesehen hatte; also begann ich zu lernen. Ich half den älteren Mönchen in der Bibliothek, und indem ich mir ihr Wissen aneignete, hoffte ich den uralten Text entziffern zu können. Gleichzeitig hielt ich nach weiteren solchen Fundstücken Ausschau, die mir helfen könnten, das Geheimnis des Sakraments aufzudecken. Zu guter Letzt hat das Schicksal mich auf einen direkteren Weg zu meinem Ziel geführt. Mein Wissensdurst blieb nicht unbemerkt, und ich wurde ausgewählt, als Novize in den höchsten Orden der Zitadelle einzutreten, den Sanctus Custodis Deus Specialis , den Bewahrern von Gottes Heiligem Geheimnis, den Einzigen, die die wahre Identität des Sakraments kennen.«
Liv schaute auf Oscars Narben, die identisch mit denen auf der Haut ihres Bruder waren. »Und wie sind Sie zu diesen Narben gekommen?«, fragte sie.
»Zum Noviziat gehört eine Zeremonie, die jeden Monat in einem Vorraum im gesperrten oberen Teil des Bergs stattfindet. Jeder Novize erhält ein hölzernes Tau, in dem ein Dolch verborgen ist. Man hat von uns erwartet, tief zu schneiden«, erzählte Oscar und strich sich gedankenverloren mit dem Finger über die Narben. »Sehr tief. Das symbolisiert die vollkommene Hingabe. Es ist ein Glaubensakt, der jedes Mal mit einem Wunder belohnt wird.« Seine Finger wanderten auf die andere Seite der Brust. »Denn egal, wie tief wir auch in unser Fleisch geschnitten haben«, fuhr er fort, »unsere Wunden heilten, und das fast sofort.« Er schaute auf. »Ist man dem Sakrament nahe, wird das stets mit guter Gesundheit und langem Leben belohnt. Ich bin fast einhundertsechs Jahre alt«, sagte er, »und doch bin ich noch so fit, als wäre ich vierzig Jahre jünger. Wäre Ihr Bruder nicht freiwillig in den Tod gegangen, hätte auch er ein langes Leben genossen, denn er wurde genauso vorbereitet, wie ich vorbereitet worden bin.«
Oscar drückte eine Taste auf der Computertastatur, und ein vertrautes Bild erschien anstelle des Bildschirmschoners. Es war eines der Autopsiefotos. Deutlich zeigte es das Brandmal auf Samuels linkem Arm, das Zeichen des Tau. »Ihr Bruder ist weiter gekommen als ich«, sagte Oscar und deutete auf den Bildschirm. »Er trägt das Symbol des Sakraments. Und wie Sie sehen können«, er zeigte Liv seinen eigenen Arm, »trage ich das nicht. Nur jene, die die letzte Weihe empfangen haben,
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