Sanctus
erhalten dieses Brandmal. Er kannte das Geheimnis.«
Liv traten die Tränen in die Augen. »Und was ist dann geschehen?«, fragte sie. »Wie kommt es, dass Sie es nicht auch herausgefunden haben?«
»Wir waren nicht die Einzigen, die unsere Geschichte kannten«, antwortete Oscar und zog sich den Rollkragenpullover wieder an. »Die Sancti hatten auch jemanden bei uns eingeschleust, und so erfuhren sie von meiner Existenz, wenn auch glücklicherweise nicht meine Identität.« Er zupfte sich Ärmel und Rollkragen zurecht, bis alle Narben verborgen waren. »In dem Versuch, mich aufzuspüren, wurde eine regelrechte Hexenjagd in der Zitadelle veranstaltet. Die Mönche beschuldigten sich gegenseitig, und oft wurden so alte Rechnungen beglichen. Es war unerträglich. Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb, also bin ich mehr und mehr Risiken eingegangen. Ich wurde sorglos. Ein anderer Novize mit Namen Tiberius hat gesehen, wie ich mir ein Schieferfragment in die Tasche gesteckt habe. Als er sich umdrehte, um die Bibliothek zu verlassen, da wusste ich, dass er mich verraten würde, obwohl er mein Freund war. Also habe ich Feuer in der Bibliothek gelegt und bin in dem darauffolgenden Chaos durchs Fenster gesprungen. Ich bin mehr als dreißig Meter tief in den Graben gestürzt und um mein Leben geschwommen. In der Welt herrschte damals Krieg. Das war im Juli 1918. Die Mala legten eine falsche Spur für mich bis zu den Schützengräben in Flandern, und ich tauschte meine Identität mit einem Unglücklichen, der von einer Granate bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden war. Die Ritter des Sakraments – die Carmina – folgten der Spur, fanden den verstümmelten Mann und kehrten zufrieden wieder zurück. Sie waren fest davon überzeugt, dass ich dem Tod genau in die Arme gelaufen war. In der Zwischenzeit wurde ich nach Brasilien gebracht, und dort lebe ich seitdem im Verborgenen.«
»Und warum sind Sie ausgerechnet jetzt wieder zurückgekommen?«, fragte Liv. »Was ist so bedeutsam am Tod meines Bruders, dass Sie Ihr Versteck verlassen haben und andere mich töten wollen?«
»Als ich damals geflohen bin, hielt ich das gestohlene Fragment in der Hand und hatte das Wissen um seine Übersetzung im Kopf. Darauf standen die ersten Zeilen einer Prophezeiung, die von einer Zeit sprach, da das Sakrament enthüllt und die ursprüngliche Ordnung der Dinge wiederhergestellt werden würde. Und das Kreuz wird fallen/ Das Kreuz wird sich erheben/Das Sakrament zu befreien/ Am Beginn der neuen Zeit.
Das gab uns Hoffnung. Dann, vor zwanzig Jahren, wurde ein weiteres Teil der Prophezeiung gefunden. Der Mann, der es gefunden hat, hieß John Mann.« Oscar schaute zu Kathryn, deren leuchtende Augen sich bei der Erwähnung des Namens plötzlich zu verdunkeln schienen. »Der Mann meiner Tochter. Gabriels Vater. Das Teil war Bestandteil einer Sammlung weiterer Fragmente, die zu einem Buch gehörten. Anhand der wenigen Teile, die er gefunden hat, schloss John, dass das Buch eine alternative Schöpfungsgeschichte enthielt. Doch die Nachricht von seinem Fund erreichte rasch die Zitadelle. Sie haben ihre Spione überall. Der Grabungsort war abgelegen. Es gab einen brutalen Überfall. Wir wissen nicht genau, was geschehen ist, aber wir können es uns denken. Wir haben weder seine Leiche noch das Material, das er gefunden hat, je entdeckt.« Oscar blinzelte und senkte den Kopf. Sein Schweigen sagte mehr als tausend Worte. Stille kehrte in den Raum ein, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.
»Mein Vater ist gestorben, weil er die Wahrheit gesucht hat«, sagte Gabriel schließlich. »Doch nicht alle Fragmente, die er gefunden hat, sind verloren gegangen. Er hatte Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und das wichtigste in Sicherheit gebracht. Wir legten es zu dem, das mein Großvater gestohlen hat, und daraufhin konnten wir schon mehr von der Prophezeiung lesen.
Das Eine Wahre Kreuz wird auf Erden erscheinen
Und alle werden es in einem Augenblick sehen und staunen
Und das Kreuz wird fallen
Das Kreuz wird sich erheben
Das Sakrament zu befreien
Am Beginn der neuen Zeit
Liv lauschte den Worten und dachte an ihren Bruder, wie er auf dem Gipfel des Bergs das Tau geformt hatte. Dann begann er zu fallen.
Und das Kreuz wird fallen.
Liv schaute auf die Zeichnung in ihrem Notizbuch, und ihr Blick fiel auf ein weiteres gefallenes Kreuz: die Stelle, wo sie einst mit ihrem Bruder verbunden gewesen war. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihre eigene
Weitere Kostenlose Bücher