Sanctus
Narbe.
Das Kreuz wird sich erheben.
Sie schaute zu Oscar.
»Es gibt da etwas, das Sie über mich und meinen Bruder wissen sollten«, sagte sie. Dann stand sie auf, und wie zuvor Oscar zog sie jetzt ihren Pullover hoch.
K APITEL 103
Athanasius und Vater Thomas betraten das Römische Gewölbe und suchten in der Dunkelheit, ob jemand da war.
Das Römische Gewölbe war das größte der alten Gewölbe, und es enthielt unter anderem sämtliche apostolischen Dokumente, die schlussendlich zur ersten Bibel zusammengefügt worden waren. Folgerichtig war das Licht, das die beiden nun durch das Gewölbe begleitete, nur noch von einem schwachen kupferfarbenen Ton. Die einzige andere Lichtquelle war der Leuchtfaden im Boden. Abgesehen davon schien das Gewölbe leer zu sein.
Athanasius schaute zu Vater Thomas und drehte dann zur ersten Regalreihe ab. Als er den dunklen Gang hinuntereilte, ging sein Atem immer schneller, und die trockene Luft zog ihm die Feuchtigkeit aus dem Mund, bis sein Gaumen genauso trocken war wie die Schriftrollen um ihn herum. Schließlich erreichte Athanasius eine Abzweigung. Rechts führte ein weiterer Gang parallel zum Hauptkorridor an der Wand entlang. Athanasius blieb stehen und schaute den Weg zurück, den er gekommen war. Schwach konnte er noch Vater Thomas’ Lichtblase sehen. Er hielt den Blick darauf gerichtet und ging langsam den rechten Gang hinunter. Auf diese Weise, hatte Thomas vorgeschlagen, würden sie vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Lichts alles im Gang zwischen sich erkennen können. Das sollte die Suche beschleunigen, hoffte er.
Sie behielten ihr gleichmäßiges Tempo bei und passierten ein Regal nach dem anderen. Dass er seinen Freund nur noch als schwachen Lichtschimmer wahrnehmen konnte, bescherte Athanasius ein leichtes Gefühl von Panik. Schon unter normalen Umständen hasste er die Bibliothek. Und in diesem Zustand wachsender Furcht bog er um eine weitere Ecke, und da sah er es: die Silhouette einer menschlichen Gestalt vor dem Hintergrund von Thomas’ ferner Lichtblase, ungefähr auf halbem Weg das Regal hinunter.
Athanasius blieb stehen und versuchte zu erkennen, ob die Gestalt sich bewegte oder nicht. Thomas musste sie ebenfalls gesehen haben, denn auch er war stehen geblieben. Athanasius atmete ein paar Mal tief durch, um seine Nerven zu beruhigen, und trat dann vor. Leise schloss er die Lücke zwischen sich und der Erscheinung. Thomas tat es ihm gleich. Thomas erreichte den Schatten als Erster. »Bruder Ponti?«, rief er laut genug, dass auch Athanasius es hören konnte.
Athanasius sah, wie die buckelige Gestalt des alten Hausmeisters aus der Dunkelheit erschien, erhellt von Thomas’ Licht.
»Wer sonst?«, krächzte Ponti mit einer Stimme so trocken wie die Luft.
Selbst im Schein gleich zweier Lichter wirkte alles an Bruder Ponti weiß und blutleer wie bei einem Höhlenmolch.
»Ich war mir nicht sicher«, fuhr Thomas freundlich fort. »Ich mache gerade eine Routineprüfung, und es gab ein Problem mit deiner Signatur, Bruder. Das System hat dich nicht erkannt. Hast du dich korrekt eingeloggt?«
»Genau so wie immer«, antwortete Ponti und hob die schmale Hand vor die milchigen Augen.
Athanasius schlich sich näher heran, bis er den alten Mann fast berühren konnte.
In dem Augenblick wurde das Programm, das Vater Thomas installiert hatte, im Kontrollraum aktiviert und tauschte die Identität von Athanasius und Bruder Ponti.
Athanasius war wie erstarrt und hielt die Luft an. Er schwieg weiter, machte kein Geräusch, doch Ponti fühlte etwas. Er drehte sich um und starrte mit seinen blinden Augen durch den Kammerherrn hindurch. Dann hob er den Kopf, schnüffelte wie eine Ratte und trat einen Schritt vor. Vater Thomas packte ihn am Arm.
»Könntest du mir einen Gefallen tun, Bruder?«, fragte er und zog den alten Mann sanft durch den Gang zurück. »Wenn du noch einmal durch den Sensor am Eingang gehen würdest, wird das System den Fehler sicher korrigieren.« Ponti starrte weiter blind auf Athanasius, doch dann drehte er sich endlich um und schlurfte pflichtbewusst davon.
Eine Welle der Erleichterung strömte durch Athanasius hindurch, als er den alten Mann weggehen sah, aber das Gefühl war nur von kurzer Dauer. Die Lichtblase mit Thomas und Ponti wurde immer kleiner, bis sie schließlich im Hauptgang verschwanden. Athanasius war allein.
K APITEL 104
Zum zweiten Mal an diesem Tag erzählte Liv die seltsamen Umstände ihrer Geburt und wartete auf eine
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