Sanctus
Becher schwarzen Kaffees auf den Schreibtisch; dann setzte er sich auf den letzten freien Stuhl. Dabei fiel Liv auf, dass auch er den beiden ähnlich sah.
»Ihr Bruder gehörte einer uralten Mönchsbruderschaft an«, erklärte Oscar und beugte sich vor, »deren einziger Zweck der Schutz des Sakraments ist. Wir glauben, sein Tod war ein Akt der Selbstaufopferung, um eine Botschaft zu senden, die schlussendlich die Identität des Sakraments enthüllt.« Er fixierte Liv mit seinen hellen Augen, und die tiefen Falten um sie herum ließen auf ein Leben voller Lachen schließen. »Und wir glauben, diese Botschaft war an Sie gerichtet.«
Liv starrte ihn einen Moment lang an. Dann holte sie ihr Notizbuch hervor und legte es auf den Tisch. Sie blätterte zur zweiten Seite, wo sie die Symbole von den Apfelkernen aufgezeichnet hatte.
»Das hat er mir geschickt«, sagte sie und schob das Notizbuch über den Tisch. »Ich habe sie immer wieder neu kombiniert, um ihnen einen Sinn zu entnehmen. Dann habe ich mich mit Dr. Anata getroffen und das hier an der Stelle gefunden, wo er aufgeschlagen ist.« Sie holte auch die Karte heraus und zeigte sie den Mala.
T
Mala
Märtyrer
»Davon ausgehend habe ich die Zeichen wie folgt angeordnet ...« Sie deutete auf das Letzte, was sie geschrieben hatte:
T + ?
Ask Mala
»Dann sind Sie gekommen«, fuhr sie fort und schaute zu Gabriel. Er lächelte. Rasch wandte Liv sich wieder von ihm ab; sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »So«, sagte sie und blickte stattdessen zu dem alten Mann. »Sie sind die Mala. Also frage ich Sie ... Was hat es mit dem ›T‹ auf sich?«
Oscar schaute sie an. Er wirkte plötzlich müde und traurig. »Es hat einst uns gehört«, sagte er, »und manchmal bezeichnet man es auch als das Mala-T. Aber was genau es ist ... Ich fürchte, das wissen wir nicht.«
Liv glaubte, sich verhört zu haben. »Aber Sie müssen das wissen«, sagte sie. »Mein Bruder hat sein Leben dafür geopfert. Warum hätte er mir sagen sollen, ich solle Sie suchen, wenn er nicht fest davon überzeugt gewesen wäre, dass Sie mir helfen können?«
Oscar schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist das ja nicht die Botschaft.«
Liv starrte auf die Phrase, die sie sich aufgeschrieben hatte. Sie hatte die Zeichen in jeder nur erdenklichen Weise miteinander kombiniert. Das war das Einzige, was Sinn ergab. Sie griff nach ihrem Notizbuch und blätterte zur ersten Seite. »Schauen Sie«, sagte sie und deutete auf die Zeichnung vom Körper ihres Bruders und das in seinen Arm gebrannte T. »Er hatte das in seinen Körper gebrannt zusammen mit all diesen anderen Narben. Vielleicht ist dort ja die Botschaft verborgen!«
Ein Reißen ließ sie den Kopf heben. »Die Narben sind keine Botschaft«, erklärte Oscar und riss sich einen weiteren Klettverschluss seiner Kombi auf. »Das sind schlicht Symbole für seine Stellung. Sie sind Teil des Rituals, das mit dem Sakrament in Verbindung steht, aber sie enthüllen nicht dessen Identität.«
Er schälte sich aus seinem Overall und zog dann auch den weißen Rollkragenpullover aus, den er darunter trug. Liv riss die Augen auf. Oscars mahagonifarbene Haut war voller alter Narben. Livs Blick wanderte über ihre vertraute Form. Sie waren absolut präzise und vollkommen identisch mit denen, die sie auf der Leiche ihres Bruders gesehen hatte.
K APITEL 101
Das Läuten der Angelus-Glocke hallte noch immer leise durch die dunklen Gänge der Zitadelle, als Vater Thomas durch die Luftschleuse in die Große Bibliothek ging. Die Glocke markierte das Ende der Vesper und den Beginn des Abendessens. Die meisten Bewohner der Zitadelle waren nun auf dem Weg ins Refektorium. Deshalb ging Vater Thomas davon aus, dass die Bibliothek so gut wie leer war.
Die zweite Tür glitt auf, und er betrat die Eingangshalle. Vater Thomas schaute sich um. Nur ein paar Lichtblasen waren in der Dunkelheit zu sehen. Größtenteils handelte es sich um Schwarzmäntel, Bibliothekare, die nach einem Tag voller Gelehrsamkeit aufräumten. Thomas entdeckte Bruder Malachi, den Chefbibliothekar; er saß neben dem Eingang zum Hauptgewölbe. Bruder Malachi hob den Blick, als Thomas den Raum betrat, und stand sofort auf. Thomas hatte ihn hier erwartet. Trotzdem überkam ihn nun Angst, als er den alten Mann mit seinem harten, ernsten Gesicht auf sich zukommen sah. Thomas war es schlicht nicht gewohnt, Geheimnisse zu haben. Das passte nicht zu ihm.
»Vater Thomas«, sagte Malachi und beugte sich
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