Sanctus
Reaktion. Sie ließ ihren Blick über die drei Gesichter vor sich wandern, die auf ihre Narbe starrten.
»Das Kreuz wird sich erheben«, flüsterte Oscar, »das Sakrament zu befreien.« Er hob den Blick und schaute Liv in die Augen. Staunen war in seinen Augen zu sehen. »Sie sind es«, sagte er.
Schüchtern zog Liv ihren Pullover wieder herunter. Sie fühlte sich plötzlich nackt. »Vielleicht«, sagte sie. »Allerdings habe ich nicht die geringste Ahnung, was das Sakrament sein könnte; also weiß ich auch nicht, wie ich es befreien soll.«
Sie setzte sich, blätterte zu der Seite, wo sie sich die Buchstaben und Zeichen aufgeschrieben hatte, und las noch einmal die Botschaft, die sie in ihnen entdeckt zu haben glaubte. Als sie sie aufgeschrieben hatte, hatte sie geglaubt, etwas auf der Spur zu sein; doch auch das war nur eine Sackgasse gewesen. Die Mala wussten ebenso wenig über das Sakrament wie sie. Plötzlich fühlte Liv sich unendlich müde.
»Waren die Buchstaben in das Leder geritzt? Wie die Telefonnummer?«, fragte Gabriel.
»Nein«, antwortete Liv und rieb sich die Augen. »Sie waren in Obstkerne gekratzt.« Als sie mit dem Reiben aufhörte, sah sie, dass die drei sie anstarrten.
»Obstkerne?«, wiederholte Oscar.
Liv nickte. Kurz verspannte sich der Körper des alten Mannes vor Konzentration, dann atmete er aus und griff über den Tisch und nach der Computertastatur. »Während meiner Zeit in der Zitadelle«, sagte er und öffnete ein Browserfenster, »habe ich ein paar von ihren Geheimnissen gelernt.« Er tippte etwas in die Suchmaschine und drückte Enter. Ein Bild wurde heruntergeladen. Es war ein Flickenteppich aus Grün, Grau und großen Flächen Blau. Als es schärfer wurde, stellte es sich als Satellitenbild von Südosteuropa und der Türkei heraus. Oscar klickte auf ein Areal. Das Bild zoomte heran, bis ein dichtes Straßennetz mit etwas Großem, Dunklem in der Mitte zu erkennen war.
»Das ist eine Satellitenaufnahme von Trahpah«, erklärte Oscar, »aufgenommen in den 80ern. Bis dahin war es Fluggeräten untersagt, die Stadt zu überfliegen.« Das Bild wurde immer schärfer. Liv beugte sich näher an den Bildschirm heran. Aus dem Weltraum betrachtet war die Zitadelle von ovaler Form und vollkommen schwarz, abgesehen von einem kleinen dunkelgrünen Areal dicht am Zentrum. »Nachdem die NASA diese Aufnahme freigegeben hat, haben sie das Verbot aufgehoben«, fuhr Oscar fort. »Selbst die Jurisdiktion der Zitadelle reicht nicht bis ins Weltall hinein.«
Liv konzentrierte sich auf den grünen Fleck.
»Was ist das?«, fragte sie. »Ein See?«
»Nein«, antwortete Oscar und zoomte so nahe heran wie möglich.
»Das ist ein Garten.«
K APITEL 105
Athanasius suchte sich seinen Weg durch die stille Bibliothek. Mit den Händen tastete er nach unsichtbaren Hindernissen, und sein Blick war stur auf den Leuchtfaden im Boden gerichtet. Wie alle, die im Berg wohnten, war er die Dunkelheit gewohnt, aber keine solche Finsternis. Ein leises Rauschen ging von ihr aus wie ein Schwarm Bienen, die sofort in alle Richtungen auseinanderstoben, kaum dass Athanasius sich umdrehte.
Athanasius warf einen Blick zurück und hielt nervös nach dem Licht von jemandem Ausschau, der sich genauso tief in die Bibliothek vorgewagt hatte. Er entdeckte nichts. Athanasius drehte sich wieder um, und sein Herz schlug so laut, dass er kaum etwas anderes mehr hörte, noch nicht einmal seine eigenen gedämpften Schritte. Vor sich sah er, wie der Leuchtfaden in den Gang einbog, der in das Verbotene Gewölbe führte. Athanasius ging darauf zu. Wie ein Seiltänzer hielt er sich dabei stur an den Leuchtfaden. Er bog in den Gang ein ... und blieb stehen.
Vor ihm führte das schmale Lichtband weiter, aber nur gut zehn Meter, dann ... nichts. Athanasius setzte sich wieder in Bewegung und zählte die Schritte. Er fühlte sich von der Dunkelheit am Ende des Leuchtfadens magisch angezogen. Er zählte achtundzwanzig Schritte, bis er das Ende des Leuchtfadens erreichte; dann drehte er sich um und ging wieder zurück. Bis zum Anfang des Korridors waren es ebenfalls achtundzwanzig Schritte. Während er zählte, erinnerte Athanasius sich daran, wie Vater Thomas ihm mit ernstem Gesicht erklärt hatte, wie er das Sicherheitssystem umgehen konnte, doch sobald Athanasius im Verbotenen Gewölbe war, könne er nichts mehr tun, hatte er gesagt. In dem Augenblick, in dem Athanasius die Schwelle überschritt, würde das den stummen Alarm auslösen
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