Sanctus
ja, dann würde der Prälat nie sterben, und er, der Abt, würde auf ewig sein Stellvertreter bleiben.
Der Abt hob den Blick. Plötzlich fiel ihm auf, wie still es geworden war. Auf dem Bildschirm zeigte eine Dialogbox an, dass der Virus übertragen war. »Und?«, fragte der Abt. »Ist alles gelöscht?«
»Ja«, antwortete der Informant. »Alles.«
»Gut«, sagte der Abt und legte beide Hände an die Schraube. Der Prälat war ein Problem. Er konnte noch immer alles ruinieren. »Tabula rasa«, flüsterte der Abt und drehte.
T EIL V
»D IE Z AUBERINNEN SOLLST DU NICHT
AM L EBEN LASSEN .«
Exodus 22:17
K APITEL 100
Am Horizont begann es allmählich zu dämmern, als das Motorrad am Torhaus und den Lagerhäusern vorbei zu dem Transportflugzeug vor Hangar 12 fuhr.
Gabriel hob die Hand und erwiderte den Gruß des Wachmanns, der sie gerade hineingelassen hatte. Liv konnte gar nicht glauben, dass der Mann sich noch nicht einmal einen Ausweis hatte zeigen lassen. So locker war die Flughafensicherheit bei ihr daheim nicht – oder zumindest hoffte sie das. Gabriel hatte dem Wachmann erklärt, er müsse etwas am Hangar abgeben, und Liv als seine Freundin vorgestellt. Sie hatte ihm nicht widersprochen. Tatsächlich gefiel ihr die Vorstellung sogar.
Sie fuhren unter der Tragfläche des Flugzeugs hindurch und in den Hangar, wo der Motorenlärm plötzlich ohrenbetäubend von den Wänden widerhallte. Der Hangar stand voller silbern verpackter Kisten, und die Gänge zwischen ihnen waren gerade breit genug für das Krad. Sie fuhren zur Rückseite des Gebäudes, wo warmes Licht hinter den Scheiben eines Büros brannte. Gabriel hielt davor und schaltete den Motor aus. »Da wären wir«, verkündete er.
Liv ließ ihn los und stieg ab. Sie strich sich gerade die Haare glatt, als die Bürotür aufging. Eine wunderbar elegante Frau trat heraus, gefolgt von einem dürren, alten Mann in Fliegerkombi. Die Frau schaute Liv kaum an. Stattdessen ging sie zu Gabriel und umarmte ihn mit geschlossenen Augen. Liv war kurzzeitig verwirrt und überraschenderweise auch eifersüchtig. Als sie sich abwandte, schaute sie dem alten Mann geradewegs in die Augen.
»Mein Name ist Oscar de la Cruz«, stellte der Mann sich vor und trat beiseite. »Bitte, kommen Sie herein.«
Liv schaute noch einmal zu Gabriel, der nach wie vor die elegante Frau umarmte, und folgte dem alten Mann dann hinein. Nach der kalten Motorradfahrt war es in dem Büro angenehm warm, und es roch nach frischem Kaffee. Da darüber hinaus auch noch ein Fernseher in der Ecke lief, hatte der Raum etwas geradezu Heimeliges an sich.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte Oscar. »Oder hätten Sie lieber etwas Stärkeres?« Er warf einen Blick zur Tür. »Unter uns gesagt ... Ich habe ein Fläschchen Whiskey in meiner Jacke.«
»Kaffee wäre prima«, sagte Liv und setzte sich auf einen Stuhl vor einem Schreibtisch.
Sie drehte sich leicht um, als Gabriel den Raum betrat. Er hatte den Arm um die schöne Frau gelegt und den Kopf gesenkt. Er sprach leise, aber schnell, und sein Gesicht war konzentriert und ernst. Die Frau schloss die Tür, schaute zu Liv und setzte sich dann ihr gegenüber an den Schreibtisch. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich bin froh, dass Sie hier bei uns in Sicherheit sind«, sagte sie. »Ich bin Kathryn. Ich habe Ihnen die Warnungen geschickt. Mein Sohn hat mir gerade erzählt, was passiert ist.«
Livs Blick flog zwischen ihr und Gabriel hin und her.
Ihr Sohn?
Gabriel zog zwei Stühle heran und setzte sich auf einen davon. Dann stellte er den großen Leinensack auf den Boden, den er die ganze Zeit über bei sich getragen hatte, und öffnete ihn. Liv schaute genauer hin. Da war wirklich eine gewisse Ähnlichkeit, auch wenn die Frau bei weitem nicht so alt wirkte, als könnte sie seine Mutter sein. Gabriel holte etwas aus dem Sack und gab es Liv. Es war ihre Reisetasche. Liv lächelte. Sie war schier unendlich dankbar für diesen schlichten, aber rücksichtsvollen Akt. Es war, als wäre sie plötzlich wieder mit einem Stück Normalität verbunden. Sie fand die Fotomappe in der Seitentasche, öffnete sie und schaute auf das erste Bild von sich und Samuel.
»Ihr Verlust tut mir sehr leid«, fuhr Kathryn fort, »und auch alles, was Sie seit dem Tod Ihres Bruders haben erdulden müssen. Ich hätte Sie nicht in unseren uralten Streit hineingezogen, aber das Schicksal hatte offenbar andere Pläne mit Ihnen.«
Oscar trat zu Liv und stellte einen
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