Sanctus
der Tür zu genau solch einer Kapelle. Das hieß, dass der dahinter liegende Raum bereits besetzt war. Athanasius trat ein. Die wenigen Votivkerzen, die das Innere erhellten, flackerten im Wind, als die Tür geschlossen wurde, und das Licht tanzte über die niedrige, rußgeschwärzte Decke und das T-förmige Kreuz am anderen Ende des Raums, vor dem ein Mann in schlichter schwarzer Robe kniete.
Der Priester schickte sich an, sich umzudrehen; doch Athanasius musste sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, wer das war. Er kniete sich neben den Mann, schlang verzweifelt die Arme um ihn und schluchzte in den dicken Stoff der Soutane seines Gefährten. So hielten sie einander lange Zeit umschlungen. Keiner von beiden sagte ein Wort. Schließlich löste Athanasius sich wieder von dem anderen und blickte in das runde weiße Gesicht und die klugen blauen Augen von Vater Thomas. Vater Thomas’ Haar wurde an den Schläfen allmählich grau, und die Tränen auf seinen Wangen glitzerten im Kerzenlicht.
»Ich habe das Gefühl, als sei alles verloren«, sagte Athanasius.
»Wir sind noch immer da, Bruder Athanasius«, erwiderte Vater Thomas. »Und was wir drei in diesem Raum besprochen haben, ist noch lange nicht verloren.«
Athanasius rang sich ein Lächeln ab. Die Worte seines Freundes wärmten ihm das Herz.
»Und wir können uns wenigstens so an Samuel erinnern, wie er wirklich war«, fuhr Vater Thomas fort, »auch wenn andere das nicht tun werden.«
K APITEL 17
Der Abt stand in der Mitte der Capella Celatum Dei – der Kapelle von Gottes Heiligem Geheimnis – hoch oben im Berg. Es war ein kleiner, niedriger Raum wie eine Krypta, auch wenn es so dunkel war, dass man die Größe kaum erkennen konnte. Die Gründer der Zitadelle hatten den Raum von Hand in den Fels geschlagen, und seitdem war er unverändert geblieben. An den Wänden waren sogar noch die Spuren der primitiven Werkzeuge zu sehen. Der Abt nahm den metallischen Geruch von Blut in der Luft wahr. Er stieg von den Abflüssen im Boden auf, den Überresten der Zeremonie vergangene Nacht, die im Kerzenlicht leicht schimmerten. Der Abt folgte den Rinnen zum Altar, wo man schwach die Umrisse des Sakraments erkennen konnte.
Am Fuß des Altars bemerkte der Abt einen neuen Ableger auf dem Felsboden, das dünne Geäst der Blutranke, der seltsamen Pflanze, die nur um das Sakrament herum wuchs und die schneller wucherte, als man sie ausreißen konnte. Allein die Fruchtbarkeit der Pflanze ekelte ihn schon an. Er wollte gerade auf sie zutreten, um sie auszureißen, als er ein tiefes Grollen vernahm: Die schwere Steintür hinter ihm wurde aufgeschoben. Zwei Männer betraten den Raum. Die Kerzen flackerten, und ihr Licht tanzte über die scharfen Instrumente an den Wänden. Dann schloss die Tür sich wieder, und die Kerzenflammen beruhigten sich.
Die beiden Neuankömmlinge trugen lange Bärte und die grünen Soutanen des höchsten Ordens. Der Kleinere der beiden blieb ein Stück zurück, den Blick auf den anderen gerichtet und die Hand auf dem T-förmigen Kreuz in seinem Gürtel. Der zweite Mann hatte den Kopf leicht gesenkt und stand mit hängenden Schultern da, als sei ihm selbst das Gewicht der Soutane zu viel.
»Und, Brüder?«, fragte der Abt.
»Der Körper ist außerhalb unserer Jurisdiktion aufgeschlagen«, berichtete der kleinere Mönch. »Wir konnten ihn unmöglich sichern.«
Der Abt schloss die Augen und atmete tief durch. Er hatte gehofft, dass die Neuigkeiten seine Stimmung heben und nicht noch weiter verschlechtern würden. Dann öffnete er die Augen wieder und betrachtete den Sanctus, der bis jetzt geschwiegen hatte. »So«, sagte er sanft und bedrohlich zugleich, »wo ist er jetzt?«
»In der städtischen Leichenhalle.« Der Blick des Mönchs wanderte nicht höher als bis zur Brust des Abts. »Wir glauben, dass sie eine Autopsie durchführen.«
»Ihr glaubt , dass sie eine Autopsie durchführen?«, spie der Abt. »Entweder wisst ihr etwas, oder ihr solltet lieber den Mund halten. Kommt nicht hier rein, um mir eure Gedanken mitzuteilen. Wenn ihr diesen Raum betretet, dann bringt ihr nur die Wahrheit und sonst gar nichts.«
Der Mönch sank auf die Knie.
»Verzeih mir, Vater Abt«, flehte er. »Ich habe versagt.«
Der Abt blickte den Mönch angewidert an. Bruder Gruber war der Mann, der Bruder Samuel in die Zelle geworfen hatte, aus der er hatte entkommen können. Es war Grubers Schuld, dass das Sakrament kompromittiert worden war.
»Du hast nicht einfach
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