Sanctus
gewartet, dass so etwas wie das hier geschah – tatsächlich hatte er den größten Teil seines Lebens sogar aktiv darauf hingearbeitet –, doch nun wusste er nicht so recht, was er tun sollte.
Steif erhob er sich von seinem Stuhl und ging zur Terrassentür, auf der sich das Mondlicht spiegelte.
»Vielleicht hat das ja nichts zu bedeuten«, sagte er schließlich.
Er hörte seine Tochter seufzen. »Glaubst du das wirklich?«, fragte sie mit einer Offenheit, die ihn lächeln ließ. Er hatte sie dazu erzogen, stets alles in Frage zu stellen.
»Nein«, gab er zu, »nicht wirklich.«
»Und?«
Oscar hielt inne. Fast fürchtete er sich, seine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Er schaute über das Tal hinweg zum Gipfel des Corcovado, zu O Cristo Redentor , der Statue von Christus dem Erlöser, der mit ausgestreckten Armen dastand und wohlwollend auf die schlafenden Bewohner von Rio hinunterblickte. Oscar hatte dabei geholfen, die Statue zu errichten, in der Hoffnung, sie würde eine neue Zeit einläuten. Und sie war tatsächlich so berühmt geworden, wie er gehofft hatte, doch das war auch schon alles gewesen. Oscar dachte an den Mönch, der gerade oben auf der Zitadelle stand und dessen Geste binnen Sekunden von den Medien auf der ganzen Welt verbreitet wurde. Seine Pose glich fast genau derjenigen der Statue, die Oscar in neun Jahren aus Stahl, Beton und Sandstein gebaut hatte. Nachdenklich strich er sich über den Kragen des Rollkragenpullovers, den er immer trug.
»Ich denke, dass die Prophezeiung sich vielleicht doch erfüllt«, flüsterte er. »Ich denke, wir sollten uns vorbereiten.«
K APITEL 14
Die Sonne strahlte nun hell über Trahpah. Samuel schaute zu, wie die Schatten auf dem östlichen Boulevard immer kürzer wurden, der bis zum Rand der roten Berge in der Ferne reichte. Er spürte die Schmerzen in seinen Schultern kaum, obwohl seine Arme immer schwerer wurden.
Seit einiger Zeit war er sich nun schon der Aktivitäten unten bewusst, der sich versammelnden Menge und der anrückenden Fernsehteams. Gelegentlich stieg ihr Raunen mit der Thermik zu ihm herauf, sodass sie unheimlich nahe klangen. Doch Samuel dachte nur an zweierlei: an das Sakrament und an das Gesicht des Mädchens aus seiner Vergangenheit. Als sein Geist sich von allem anderen befreite, verschmolz beides zu einem einzigen mächtigen Bild, das ihn tröstete und beruhigte.
Samuel schaute über die Felskante hinweg nach unten, vorbei an dem Überhang, an dem er sich vor scheinbar einer Ewigkeit hinaufgehangelt hatte, und bis zu dem leeren Graben hinunter, mehr als vierhundert Meter unter ihm.
Samuel steckte die Füße in die Schlitze, die er sich in den Saum seiner Soutane gerissen hatte, und hakte die Daumen in ähnliche Löcher am Ende jedes Ärmels. Anschließend stellte er die Füße auseinander und spürte, wie der Stoff sich spannte. Er warf einen letzten Blick nach unten, spürte die warme Thermik und hörte die Stimmen im stärker werdenden Wind. Dann konzentrierte er sich auf die Stelle, die er sich ausgesucht hatte, unmittelbar hinter der Mauer, wo eine Touristengruppe neben einem kleinen Grasflecken stand.
Schließlich verlagerte er sein Gewicht.
Beugte sich vor.
Und sprang.
In nur drei Sekunden hatte er die gleiche Strecke zurückgelegt, für die er in der Nacht zuvor qualvolle Stunden gebraucht hatte. Schmerz brannte in seinen Armen und Beinen, die darum kämpften, die dicke Baumwolle gegen den rasch zunehmenden Luftdruck gespannt zu halten, und er konzentrierte sich stur auf den kleinen Flecken Gras.
Samuel hörte Schreie im Wind, drückte die Arme hinunter und versuchte, seine Flugbahn zu korrigieren. Er sah Menschen von der Stelle weglaufen, auf die er zuhielt. Der Boden raste auf ihn zu.
Samuel spürte einen harten Ruck, als der Stoff an seiner rechten Hand zerriss, und er geriet ins Trudeln. Sofort versuchte Samuel, den Stoff wieder zu spannen, doch es war zu spät. Der Wind riss den Ärmel sofort wieder los. Samuel war zu schwach. Das Trudeln wurde immer schlimmer, und der Boden kam rasch näher. Samuel drehte sich auf den Rücken.
Mit einem Übelkeit erregenden Krachen landete er gut drei Meter hinter der Grabenmauer, knapp neben dem Gras, die Arme noch immer ausgestreckt und die klaren grünen Augen gen Himmel gerichtet. Die Schreie, die begonnen hatten, kaum dass er sich vom Gipfel gestürzt hatte, breiteten sich nun in der gesamten Menge aus. Jene, die ihm am nächsten standen, wandten sich entweder ab
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