Sanctus
unvollständig war, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie die Ereignisse in Bezug auf die letzten vier Zeilen deuten sollte.
Zwar war das Kreuz tatsächlich gefallen, wie es in der Prophezeiung stand, doch das Kreuz war ein Mann gewesen.
Kathryn schaute zum Fenster hinaus. Vom Boden bis zur Spitze war die Zitadelle etwa vier- bis fünfhundert Meter hoch, und der Mönch war die steile Ostwand hinuntergestürzt.
Wie sollte er sich da wieder erheben?
K APITEL 16
Athanasius drückte sich das lose Dokumentenbündel an die Brust und klopfte an die vergoldete Tür zu den Gemächern des Abts. Keine Antwort. Athanasius schlüpfte hinein und stellte zu seiner großen Erleichterung fest, dass niemand im Raum war. Das hieß, dass er nicht mit dem Abt darüber würde diskutieren müssen, wie sich das Problem mit Bruder Samuel gelöst hatte – jedenfalls nicht im Augenblick. Gefreut hatte Athanasius das nicht. Bruder Samuel war einer seiner engsten Freunde gewesen, bevor man ihn dazu auserkoren hatte, den Pfad der Sancti zu beschreiten und auf immer in den abgeschotteten oberen Regionen des Bergs zu verschwinden. Und jetzt war er tot.
Athanasius trat an den Schreibtisch, legte die Dokumente ab und sortierte sie in zwei Stapel. Der erste enthielt die täglichen Berichte über die inneren Angelegenheiten der Zitadelle: Vorratslisten, Arbeitspläne, Wartungsarbeiten und dergleichen. Der zweite, weit größere Stapel bestand aus Berichten über alles, was außerhalb der Zitadellenmauern für die Kirche von Interesse war: aktuelle archäologische Grabungen weltweit; Zusammenfassungen theologischer Diskurse; Exposés für Bücher, die sich mit für die Zitadelle relevanten Themen beschäftigten, und manchmal sogar Anträge für Fernsehsendungen oder Dokumentarfilme über Stadt und Zitadelle. Die meisten dieser Informationen stammten von Institutionen, die entweder von der Kirche finanziert wurden oder ihr gleich ganz gehörten; aber einiges davon hatte seinen Ursprung auch in dem riesigen Netz von inoffiziellen Mitarbeitern, die insgeheim in jedem Teil der modernen Gesellschaft arbeiteten und genauso Teil der Zitadellentradition waren wie Predigten und Gebete.
Athanasius schaute auf das oberste Papier. Dabei handelte es sich um den Bericht eines Agenten mit Namen Kafziel, einem der profiliertesten Spione der Kirche. Bei einer Grabung in Syrien hatte man in den Ruinen eines Tempels Fragmente eines antiken Manuskripts entdeckt. Kafziel empfahl eine sofortige ›AU-Maßnahme‹, Akquise und Untersuchung, um jedwede Bedrohung schon im Keim neutralisieren zu können. Athanasius schüttelte den Kopf. Ohne Zweifel würde schon bald wieder eine unbezahlbare Antiquität in den Tiefen der Großen Bibliothek verschwinden. Was er von dieser Politik hielt, war kein Geheimnis in der Zitadelle. Gemeinsam mit Bruder Samuel und Vater Thomas, dem Erfinder vieler Verbesserungen in der Bibliothek, hatte er argumentiert, dass das Horten von Wissen und die Zensur anderer Ideen Zeichen für eine schwache Kirche in der modernen, offenen Welt seien. Oft hatten sie gemeinsam von einer Zeit geträumt, da man das große Wissen innerhalb der Zitadellenmauern mit der Welt teilen würde, zum Ruhme Gottes und zum Wohle der Menschen – aber nur unter vier Augen. Dann hatte Samuel sich entschlossen, dem uralten und geheimen Pfad der Sancti zu folgen, und Athanasius hatte das Gefühl, als seien all ihre Hoffnungen mit ihm gestorben. Alles, was Samuel je in der Zitadelle getan und geleistet hatte, war nun befleckt.
Athanasius spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, als er seinen Blick über die beiden Stapel schweifen ließ und sich vorstellte, welche Nachrichten wohl in den nächsten Wochen hereinkommen würden: endlose Berichte über den vom Gipfel gestürzten Mönch und wie die Welt das wahrgenommen hatte. Athanasius drehte sich um und ging wieder zur Tür. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, verließ die Räumlichkeiten des Abts und machte sich auf den Weg durch das Labyrinth des Bergs. Er brauchte einen stillen Ort, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Mit gesenktem Kopf marschierte er festen Schrittes durch die kühlen Tunnel. Die breiten, hell erleuchteten Durchgänge führten zu einer schwach beleuchteten Treppe, die ihrerseits zu einem schmalen Gang unter der großen Kathedralenhöhle führte. Zu beiden Seiten des Gangs befanden sich kleine Privatkapellen. Am äußersten Ende des Gangs brannte eine Kerze in einer kleinen Nische neben
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