Sanctus
nur versagt, sondern uns alle auch maßlos enttäuscht«, sagte der Abt.
Dann drehte er sich um und schaute erneut auf das Geheimnis ihres Ordens. Er konnte förmlich spüren, wie sich die Augen der Welt auf die Zitadelle richteten und sich wie Röntgenstrahlen durch den Fels brannten auf der Suche nach dem, was sich darin verbarg. Das Warten die ganze Nacht über hatte ihn müde und reizbar gemacht, und unter seiner Soutane schmerzten die Schnitte. Auch wenn seine zeremoniellen Wunden genauso rasch heilten wie eh und je, hatte er feststellen müssen, dass sie ihn jedes Mal länger schmerzten. Das war das Alter; allmählich machte es sich bemerkbar.
Der Abt wollte nicht wütend auf den vor ihm kauernden Mönch sein. Er wollte einfach nur, dass die Situation sich klärte und der flatterhafte Blick der Welt sich auf einen anderen Ort richtete. Aber die Zitadelle würde auch diese Belagerung überstehen. Das war immer so gewesen.
»Steh auf«, sagte der Abt in sanftem Ton.
Gruber gehorchte, den Blick noch immer gesenkt, sodass er nicht sah, wie der Abt dem Mönch hinter ihm zunickte. Der Mann zog daraufhin das Kreuz in seinem Gürtel auseinander, und die Zeremonienklinge kam zum Vorschein.
»Schau mich an«, befahl der Abt.
Als Gruber den Kopf hob, um dem Abt in die Augen zu sehen, schnitt ihm der andere Mönch rasch die Kehle durch.
»Wissen ist alles«, sagte der Abt und trat einen Schritt zurück, um dem spritzenden Blut auszuweichen.
Auf Grubers Gesicht zeichnete sich erst Überraschung und dann Verwirrung ab, als er die Hand auf den sauberen Schnitt an seinem Hals drückte. Dann sank er wieder auf die Knie, und das Leben floss aus ihm hinaus und in die Rinnen auf dem Boden.
»Finde heraus, was genau mit der Leiche geschehen ist«, sagte der Abt zu dem anderen Mönch. »Nimm Kontakt zu irgendjemandem im Stadtrat oder bei der Polizei auf, zu jemandem, der Zugriff auf diese Informationen hat und der bereit ist, sie mit uns zu teilen. Wir müssen wissen, welche Schlüsse man aus dem Tod von Bruder Samuel zieht. Wir müssen wissen, wohin die Ereignisse dieses Morgens führen. Und vor allen Dingen muss Bruder Samuels Leiche wieder hierher zurück.«
Der Mönch starrte zu Gruber hinunter, der noch immer auf dem Boden zuckte.
»Natürlich, Vater Abt«, sagte der Mönch schließlich. »Über einen Vermittler kümmert sich Athanasius bereits um die Presse draußen, und ich glaube ... ich meine, ich weiß , dass auch die Polizei schon Kontakt zu uns aufgenommen hat.«
Dem Abt zog sich der Magen zusammen, als er wieder die Augen der Welt auf sich ruhen fühlte.
»Halte mich auf dem Laufenden«, befahl er. »Und schick Athanasius zu mir.«
Der Mönch nickte. »Natürlich, Vater Abt«, sagte er. »Ich werde ihn informieren, dass du ihn in deinen Gemächern sehen willst.«
»Nein.« Der Abt trat an den Altar und riss die Blutranke heraus. »Nicht dort.«
Er schaute auf das Sakrament. Sein Kammerherr war kein Sanctus; also kannte er das Sakrament nicht, aber wenn er die gegenwärtige Situation in den Griff bekommen sollte, musste er zumindest ansatzweise wissen, womit sie es zu tun hatten.
»Er soll sich mit mir in der Bibliothek treffen«, entschied der Abt, ging zur Tür und ließ die Ranke auf Bruder Grubers Leiche fallen, als er über ihn hinwegstieg. »Er wird mich im Verbotenen Gewölbe finden.«
Der Abt packte einen Holzschaft, der in der Tür steckte, und zog mit aller Kraft daran. Das Rumpeln von Stein auf Stein hallte durch die Kapelle, und die kühle, süße Luft aus dem Vorraum strömte durch die Öffnung. Schließlich blickte der Abt noch einmal zu dem toten Bruder Gruber zurück.
»Und sieh zu, dass das verschwindet«, sagte er.
Dann drehte er sich um und ging.
K APITEL 18
Die Gerichtsmedizin war in der Kellern eines Gebäudes untergebracht, das im Laufe der Geschichte schon als Pulverlager, Eiskammer, Fisch- und Fleischmarkt und kurz auch als Gefängnis gedient hatte. Die so gegebene Sicherheit und die unterirdische Kühle waren perfekt für die Pathologie, die der Stadtrat in den 50er Jahren hatte einrichten lassen. Und hier, in diesen alten Gewölbekellern, lag nun die Leiche von Bruder Samuel auf dem mittleren von drei altmodischen Steintischen und wurde von zwei Männern im grellen Licht der OP-Lampen untersucht.
Der eine dieser Männer war Dr. Bartholomew Reis, der ortsansässige Gerichtsmediziner. Locker hatte er den weißen Laborkittel über den schwarzen Anzug geworfen. Als Teil eines
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