Sanctus
»Ach ... wie gesegnet du doch bist ... dass du solch ein Vertrauen hast.« Erneut wanderte sein Blick nach oben. »Ich muss gestehen ... je näher der Tod kommt ... desto mehr verändern sich die Dinge ... Das Leben strahlt ... auf seltsame Art ... im dunklen Licht des Todes ... Doch ich werde bald ... vom Leben geheilt sein ...«
Der Abt wollte widersprechen, doch der Prälat hob die Hand, um ihm Schweigen zu gebieten.
»Ich bin alt, Bruder Abt ... zu alt ... Ich nähere mich ... meinem dritten Jahrhundert ... Einst dachte ich ... das lange Leben ... das ich genossen habe ... hätte ich ... dem Leben im Berg zu verdanken ... und es sei ... ein Segen ... Ich habe geglaubt ... das sei Beweis dafür ... dass Gott ... uns wohlgesinnt ist ... und unserer Arbeit ... Jetzt bin ich mir da ... nicht so sicher ... In jeder Kultur ... gilt ein langes Leben ... als schrecklicher Fluch ... für die Verdammten ...«
»Oder die Göttlichen«, sagte der Abt.
»Ich hoffe ... du hast recht ... Bruder Abt ... Ich habe in letzter Zeit ... viel darüber nachgedacht ... und ich frage mich ... wenn meine Zeit gekommen ist ... wird der Herr dann ... ob meiner Arbeit auf mich lächeln? Oder wird Er ... sich für mich schämen? Werden all meine Mühen ... nicht mehr sein ... als der blutige Versuch ... den Ruf von Männern ... zu beschützen, die schon längst zu Staub zerfallen sind?«
Seine Stimme verhallte in einem trockenen Rasseln, und die dunklen Augen zuckten zu dem Wasserkrug neben dem Bett.
Der Abt schenkte ein Glas Wasser ein und hob den Kopf des Prälaten, sodass er trinken konnte. Auch der Kopf des Prälaten fühlte sich schier unmenschlich kalt an. Vorsichtig legte der Abt den Kopf wieder aufs Kissen und stellte das Glas auf den Tisch. Der Prälat richtete seinen Blick wieder ins Nichts über dem Bett.
»Ich starre dem Tod ... ins Gesicht ... jeden Tag ...«, sagte der Prälat. »Ich beobachte ihn ... und er mich ... Ich frage mich nur ... warum er Distanz wahrt ... Und dann kommst du ... und sprichst sanfte Worte ... die deinen Blutdurst ... kaum verbergen ... und ich denke bei mir ... vielleicht ist der Tod ja klug ... Vielleicht lässt er mich am Leben ... damit ich dir ... die Macht geben kann, nach der du verlangst ... Denn dann wirst du ... ihm weit frischere Seelen bringen ... als meine ...«
»Mich dürstet nicht nach Blut«, widersprach der Abt. »Aber manchmal verlangt das unsere Pflicht. Die Toten bewahren ein Geheimnis besser als die Lebenden.«
Wieder fixierte der Prälat den Abt mit seinem durchdringenden Blick.
»Bruder Samuel ... sieht das ... vermutlich anders ...«
Der Abt schwieg.
»Ich werde ... dir deinen Wunsch ... nicht gewähren ...«, erklärte der Prälat unvermittelt, und sein Blick wanderte über das Gesicht des Abts in Erwartung einer Reaktion. »Finde und beobachte sie ... aber tu ihr nichts an ... Ich verbiete es ... ausdrücklich ...«
Der Abt war wie vor den Kopf geschlagen.
»Aber Euer Heiligkeit, wie können wir sie leben lassen, wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass sie das Geheimnis des Sakraments kennt?«
»Ich bezweifele ... dass sie etwas weiß ...«, erwiderte der Abt. »Eine Telefonnummer zu haben ... ist eine Sache ... ein Telefon ... etwas vollkommen anderes ... Glaubst du wirklich ... dass Bruder Samuel die Zeit gehabt hat ... einen Anruf zu tätigen ... zwischen der Initiation ... und seinem tragischen Tod? Bist du wirklich so begierig darauf ... ob solch einer vagen Möglichkeit ... ein Leben zu nehmen?«
»Ich denke, wenn unser Orden in Gefahr ist, sollten wir nicht das geringste Risiko eingehen. Die Kirche ist schwach. Die Menschen glauben an gar nichts mehr. Wenn sie jetzt den wahren Ursprung ihres Glaubens erfahren, könnte das alles zerstören. Ihr habt selbst innerhalb dieser Mauern schon gesehen, wie manch einer reagiert, wenn ihm das Sakrament enthüllt wird – und das, obwohl ein Sanctus sorgfältig ausgewählt und vorbereitet wird. Stellt Euch doch nur mal vor, was geschehen würde, sollte die Welt davon erfahren. Chaos würde ausbrechen. Bei allem Respekt, Euer Heiligkeit, wir müssen das Sakrament mehr denn je beschützen. Die Zukunft unseres Glaubens hängt davon ab. Dieses Mädchen ist schlicht viel zu gefährlich, um es am Leben zu lassen.«
»Alle Dinge enden irgendwann ...«, sagte der Prälat. »Nichts ist für ewig ... Wenn die Kirche schwach ist ... dann ist all das ... vielleicht aus einem Grund geschehen ... Vielleicht ist es
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