Sanctus
Verletzungen davongetragen. Sam war aufgewacht, als Schnee durch die zerbrochene Seitenscheibe geweht war, und er hatte sich nicht mehr daran erinnern können, wie er hierhergekommen war. Sein Arm hatte höllisch geschmerzt, doch ansonsten war ihm nur kalt gewesen. Sein Vater wiederum war zwar bei Bewusstsein gewesen, hatte jedoch stark am Kopf geblutet. Außerdem war Newton senior unter dem Armaturenbrett eingeklemmt gewesen und hatte von der Hüfte an abwärts nichts mehr gespürt.
Sam hatte seinen Vater so warm eingepackt, wie er konnte, und war dann die Schlucht hinaufgeklettert, um Hilfe zu holen. Das hatte einige Zeit gedauert, denn er musste nicht nur gegen den Sturm ankämpfen, sondern auch gegen die Schmerzen in seinem Arm, der – wie sich später herausstellte – an zwei Stellen gebrochen gewesen war. Schließlich hatte er jedoch die Straße erreicht und einen vorbeikommenden Lkw angehalten.
Aber als die Sanitäter eintrafen, hatte sein Vater bereits zu viel Blut verloren und zu lange in der Kälte gelegen. Er war ins Koma gefallen, und daraus war er nie wieder aufgewacht. Drei Tage später war er gestorben. Sam war damals erst achtzehn Jahre alt gewesen. Mit der Siegestrophäe des Kletterwettbewerbs in der Hand und mit seinem Vater im Sarg war er wieder in die USA zurückgeflogen.
Arkadian hatte auch den Antrag für einen Reisepass gefunden, den Sam gestellt hatte, als er überall auf der Welt mit Kletterexpeditionen begonnen hatte. Im Abschnitt ›Unveränderliche Kennzeichen‹ war eine kreuzförmige Narbe auf der rechten Seite vermerkt, unmittelbar unter den Rippen. Arkadian hatte das Gefühl, seinen Mann gefunden zu haben, doch einige Dinge passten noch immer nicht.
Es gehörte zur Standardprozedur, jeden zu überprüfen, der sich meldete, um das Opfer zu identifizieren; so wollte man Falschaussagen vermeiden. Als Arkadian Liv Adamsen aus Newark, New Jersey, überprüft hatte, hatte er all das Übliche gefunden: wo sie wohnte, ihre
Kreditkartenabrechnungen und so weiter. Nichts davon war irgendwie bemerkenswert gewesen. Doch je tiefer er grub, desto verwirrter wurde er.
Besonders zwei Dinge erregten sein Misstrauen. Zum einen war da ihr Beruf. Liv Adamsen war Journalistin bei einer großen Zeitung in New Jersey, und sie beschäftigte sich vor allem mit Straftaten. Das war schlecht, besonders bei einem Fall, der so öffentlich und bemerkenswert war wie dieser hier. Der zweite Punkt war weniger ein Problem als vielmehr ein Mysterium. Trotz der Tatsache, dass Liv den Toten korrekt identifiziert und wie eine Schwester reagiert hatte, gab es keinen einzigen offiziellen Vermerk, dass Samuel Newton Geschwister gehabt hatte.
K APITEL 42
Die Lockheed TriStar bebte, als der Flug der Cyprus Turkish Airlines von London-Stansted abhob, um in den Orient zu fliegen. In dem Moment, als das Fahrwerk sich vom Asphalt löste, riss der Wind so heftig an der Maschine, dass man hätte glauben können, sie breche auseinander.
Es war ein großes Flugzeug, und das war beruhigend; aber es war auch alt, und das trug nicht gerade zur Entspannung bei. In den Sitzlehnen steckten noch immer Aluminiumaschenbecher, die klapperten, als die Maschine sich nach oben kämpfte. Liv beäugte den Aschenbecher und dachte an die Zeit zurück, als sie ihre Nerven auf die altmodische Art hätte beruhigen können. Stattdessen riss sie nun ein Päckchen eingelegten Ingwer auf, die Überreste eines viel zu teuren Sushi zum Mitnehmen, das sie sich bei einer Zwischenlandung gekauft hatte, und schob sich eine Scheibe unter die Zunge. Ingwer war gut gegen Stress und Reiseübelkeit. Liv verschloss das Päckchen wieder und steckte es weg. Sie hatte das Gefühl, als würde sie auf diesem Flug den Ruf des Ingwers gleich des Öfteren auf die Probe stellen müssen.
Liv kaute langsam auf ihrem Ingwer und ließ ihren Blick über die anderen Passagiere schweifen. Die Kabine war nur halb voll, aber es war ja auch mitten in der Nacht. Die alte Lockheed fiel in ein Luftloch und kippte leicht auf die Seite. Über den Steuerbordflügel hinweg konnte Liv den Flughafen sehen. Sie zwang sich, den Blick vom Fenster abzuwenden.
Liv hatte gehofft, auf dem letzten Teil ihrer Reise ein wenig schlafen zu können, aber daran war nun nicht mehr zu denken. Also holte sie stattdessen aus der Tasche, was sie am Flughafen gekauft hatte: einen Reiseführer für die Türkei.
Sie blätterte zum Inhaltsverzeichnis. Über Trahpah gab es ein ganzes Kapitel und sogar eine
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