Sanctus
Karte der Türkei. Liv schaute sich als Erstes die Karte an. Wie die meisten Menschen, so hatte auch sie nur eine vage Idee, was Trahpah eigentlich war. Die antike Stadt und vor allem die Zitadelle waren wie die Pyramiden in Ägypten: Jeder wusste, wie sie aussahen, doch nur wenige konnten sie im Atlas finden.
Die dreiseitige Faltkarte zeigte die Türkei wie eine Brücke zwischen dem europäischen Festland und dem Nahen Osten, eingerahmt zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer. Liv schaute nach Osten, dorthin, wo die Länder der Bibel begannen.
Sie entdeckte ein Flughafensymbol bei der Stadt Gaziantep, dem Ort, wo sie in etwa vier Stunden landen sollte. Trahpah sah sie jedoch nicht. Liv schaute noch einmal genauer hin. Erst nach ein paar Minuten fand sie die Stadt. Trahpah lag nordwestlich des Flughafens, am Fuß des Taurusgebirges, genau in der Kartenfalte und fast vollständig von einer Linie des Gitters verdeckt. Es kam Liv irgendwie passend vor, dass ihr Bruder sich ausgerechnet an so einem Ort versteckt hatte: in einer bekannten und doch unbekannten Stadt, verborgen in einer Kartenfalte.
Liv blätterte durch das Buch, bis sie das Kapitel über Trahpah gefunden hatte, und begann zu lesen. Sie sog jede noch so geringe Kleinigkeit förmlich in sich auf und arrangierte sie mit ihrem journalistischen Verstand, bis sie ein klares Bild von dem Ort hatte, an dem ihr Bruder gelebt hatte und wo er gestorben war. Trahpah war ein bedeutendes religiöses Zentrum. Das ergab Sinn, wenn man bedachte, was Samuel zu ihr gesagt hatte, als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Auch war die Stadt die älteste Pilgerstätte der Welt, was sie vor allem ihrem Heilwasser zu verdanken hatte, das von den Gletschern in den umliegenden Bergen stammte. Und auch das ergab Sinn. Liv konnte sich leicht vorstellen, wie ihr Bruder unter falschem Namen als Bergführer gearbeitet hatte, um endlich den Frieden zu finden, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte.
Ich möchte Gott näher sein , hatte er zum Abschied zu ihr gesagt.
Liv hatte sich in der Stille, die seinem Weggang gefolgt war, oft gefragt, was er wohl mit diesen Worten gemeint hatte, und die unterschiedlichsten Möglichkeiten hatten ihr die schlimmsten Albträume beschert. Aber irgendwie hatte sie in all den Jahren immer gewusst, dass er noch am Leben war. Sie hatte das sogar noch geglaubt, als der Brief vom Standesamt ihr das Gegenteil erklärt hatte. Und jetzt folgte sie dem Pfad, den er gegangen war, um herauszufinden, was für ein Leben er dort geführt hatte. Liv hoffte, der Inspektor würde ihr sagen können, wo Sam gelebt hatte, und vielleicht würde sie ja auch Leute treffen, die ihn gekannt hatten. Womöglich könnten die ihr ein paar Antworten geben, um die Lücken in ihrem Kopf zu füllen.
Liv blätterte weiter und schaute auf ein Foto der Altstadt von Trahpah am Fuß eines riesigen Bergs. Der Untertitel lautete: Die meistbesuchte antike Stätte der Welt, die angeblich eine mächtige, uralte Reliquie beherbergt, die nur als das Sakrament bekannt ist.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine kurze Chronik der Zitadelle, die ihre kontinuierliche Existenz die ganze menschliche Geschichte hindurch belegte. Liv war bis jetzt immer davon ausgegangen, dass es sich bei der Zitadelle um einen christlichen Schrein handelte, doch im Fließtext stand zu lesen, dass sie erst im vierten Jahrhundert mit dem Christentum in Verbindung getreten war, nach der Taufe Kaiser Konstantins. Davor war sie von allen Religionen unabhängig gewesen, auch wenn sie großen Einfluss auf nahezu jede antike Religion gehabt hatte: Die Babylonier hatten sie als die erste und größte Zikkurat betrachtet; die Griechen hatten sie als Wohnstätte der Götter angebetet und in Olymp umbenannt, und selbst den Ägyptern war sie heilig gewesen. Die Pharaonen waren über das Meer bis ins hethitische Reich gereist, um sie zu besuchen. Es gab sogar Theorien, nach denen die Pyramiden nichts anderes gewesen waren als der Versuch, den heiligen Berg nachzuahmen und so in den Besitz seiner magischen Qualitäten zu gelangen.
Nachdem die Zitadelle aus politischen Gründen das Christentum anerkannt hatte, war das operative Zentrum der neuen Religion dann nach Rom verlegt worden, um sich dem Schutz der weltlichen Macht zu unterstellen. Die Zitadelle blieb jedoch die Macht im Hintergrund, nur dass sie ihre Edikte und Dogmen nun durch Rom verkündete. Rasch entwarf man im Berg auch eine neue Version der Bibel, die
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