Sanctus
geschlafen, mindestens eine Gallone Kaffee in mich reingekippt und gerade eine wirklich schlechte Nachricht bekommen. Also bin ich nicht gerade bester Laune. Wenn Sie wissen wollen, worüber genau Inspektor Arkadian und ich gesprochen haben, dann bin ich sicher, dass er Ihnen gerne Auskunft darüber geben wird. Sein Gedächtnis ist wohl kaum schlechter als meins, im Augenblick wohl eher besser.«
Sie legte auf und schaltete das Handy ab, bevor es wieder klingeln konnte.
K APITEL 38
Liv hatte kaum aufgelegt, da befahl der Abt Athanasius, er solle Bruder Samuels Akte aus der Bibliothek holen. Und die Akten aller aktuellen Mitglieder der Carmina sollte er auch gleich mitbringen, denn langsam nahm ein Plan in seinem Kopf Gestalt an.
Eine schlechte Nachricht , hatte sie zu ihm gesagt, eine wirklich schlechte Nachricht ... Und Arkadian hatte sich die Mühe gemacht, sie anzurufen ...
Das war unmöglich. Niemand durfte in die Zitadelle eintreten, wenn er noch lebende Verwandte hatte. Das Fehlen einer Familie bedeutete keinerlei emotionale Bindungen mehr, die den Novizen von der Arbeit im heiligen Berg hätten abhalten oder das Verlangen in ihm hätten wecken können, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Die Sicherheit der Zitadelle und die Bewahrung ihrer Geheimnisse hingen von dieser Regel ab, die nie gebrochen werden durfte. Deshalb wurde der Hintergrund eines jeden Kandidaten auch sorgfältig überprüft, und im Zweifel wurde gegen ihn entschieden. Waren die Familienunterlagen verbrannt? Aufnahme abgelehnt. Gab es da einen entfernten Vetter, der für tot gehalten wurde, aber nie gefunden worden war? Aufnahme abgelehnt.
Die Akten kamen nach nur fünf Minuten. Athanasius legte sie wortlos auf den Schreibtisch des Abts und verschwand wieder.
Wie bei allen Bewohnern der Zitadelle, so war auch Bruder Samuels Akte ausführlich, gründlich und enthielt Kopien und auch einige Originale von jedem wichtigen Dokument zu seinem Leben: Schulzeugnisse, Sozialversicherungsnachweise, ja sogar polizeiliche Führungszeugnisse – alles.
Der Abt suchte die Dokumente nach Hinweisen auf Samuels Familie ab. Er fand Totenscheine. Samuels Mutter war unmittelbar nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er achtzehn Jahre alt gewesen war. Die Großeltern waren schon lange tot. Samuels Vater war ein Einzelkind gewesen, und der einzige Bruder seiner Mutter war im Alter von elf Jahren an Leukämie gestorben. Onkel gab es also nicht und auch keine Tanten, Vettern, Brüder oder Schwestern. Alles war so, wie es sein sollte.
Ein leises Klopfen lenkte den Abt von der Akte ab. Er hob den Blick, als die Tür sich gerade weit genug öffnete, dass Athanasius in den Raum schlüpfen konnte.
»Verzeih mein Eindringen, Vater Abt«, sagte er, »aber der Prälat hat mich gerade darüber informiert, dass er sich wohl genug fühlt, dich zu empfangen. Du sollst dich eine halbe Stunde vor der Vesper in seinen Gemächern einfinden.«
Der Abt schaute auf die Uhr. Die Vesper war in zwei Stunden. Die Verzögerung war vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass die Vampire, die den Prälaten am Leben erhielten, erst noch etwas frisches Blut in ihn pumpen mussten. Der Abt hatte gehofft, bis zur Audienz auch ein paar gute Neuigkeiten zu haben. Er schaute zu dem großen Stapel roter Aktenordner, die die persönlichen Daten der Carmina enthielten. Ja, vielleicht gab es doch etwas Gutes zu berichten.
»Nun gut«, sagte der Abt, schloss Bruder Samuels Akte und legte sie beiseite. »Aber du musst vorher noch etwas für mich tun. Ich möchte, dass du Kontakt zu der Quelle aufnimmst, die uns mit der Polizeiakte versorgt hat. Ich glaube, der ermittelnde Inspektor hat inzwischen mit einer Frau gesprochen. Ich möchte wissen, wer sie ist; ich möchte wissen, was gesprochen wurde, und vor allen Dingen will ich wissen, wo sie ist.«
»Natürlich«, sagte Athanasius. »Ich werde so viel herausfinden, wie ich kann, und dich noch vor der Audienz informieren.«
Der Abt nickte. Athanasius verneigte sich und verließ den Raum. Dann richtete der Abt seine Aufmerksamkeit wieder auf die Akten.
Insgesamt waren es zweiundsechzig, und jede enthielt die detaillierte Geschichte eines Mitglieds der Carmina, der Rotmäntel, der Wächter, die die Wege in die verbotenen Bereiche des Bergs bewachten. Allesamt waren sie Männer, die ihre kriegerischen Fähigkeiten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Zitadelle schon bewiesen hatten. Als
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