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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Ich konnte mich
mit meiner Mutter nur in der Dämmerung am Ende des Dorfes treffen, heimlich,
als wären wir ein Liebespaar. Die Arme war ganz erfüllt von Angst, sie fürchtete
den Onkel sehr, bangte um mich und wurde vor Kummer und Elend recht einfältig.
Wenn in ihren Augen noch ein Funken Vernunft aufblitzte, so war es ein Gedanke,
der nur mir galt.
    Und doch
nahm sie diese Situation als natürlich hin und fand es in Ordnung, daß der
Onkel sie quälte und mich von ihr fernhielt, daß ich schöne Kleider trug und
bei ihm zweimal täglich Fleisch aß, während sie oft wochenlang keines sah.
Ich machte mir damals nicht so sehr viele Gedanken. Ich mußte in den Ferien
heimkommen, weil es mein Onkel wünschte, ich war sein Paradestück! Mit mir
prahlte er vor dem Gutsbesitzer und dem Pfarrer, und er lauschte meinem Latein
mit blödem, seligem Grinsen. Er führte mich
in seiner Welt umher, als wäre ich ein gut dressiertes Zuchttier. Ich glaube,
am liebsten hätte er mir einen Ring durch die Nase gezogen wie der wandernde
Zigeuner dem jungen Bären. Er hatte keine Familie und lebte in wilder Ehe mit
einer jungen Magd, einem slowakischen Mädchen. Erst zwanzig Jahre später ist
mir klargeworden, was dieser Mann in mir alles getötet hat, was diese
Ferienbesuche in mir vernichteten, wieviel Schande, hilflosen Zorn,
Eifersucht, Demütigung und Verzweiflung sie in mir abgelagert haben. Aber
jetzt, da mir dies alles bewußt geworden ist, hilft das nichts mehr. Es hilft
mir auch durchaus nicht, zu wissen, daß ich sogar Anna dem Onkel zu verdanken
habe.
    Ja, so
wurde ich tatsächlich zum Herrn: Ich werde Arzt, habe Geld und feine Kleider
... und doch – immer und ewig muß ich mich umschauen, wenn ich ein vornehmes
fremdes Zimmer betrete, ich wage nicht, in das Gesicht des Dienstmädchens zu
blicken, weil ich Angst habe, daß mir das Antlitz meiner Mutter darin
entgegenschaut, ich wage nicht, von einem Mädchen Dienste anzunehmen ... Es ist
krankhaft, ich weiß es. Ich lernte, dieses Gefühl wohl zu verbergen – Anna
beispielsweise hat es anfangs gar nicht gemerkt. Bei Anna zu Hause war man
auch knapp an Geld, aber man kannte keine qualvollen Bedenken. Anna konnte
sich ohne Gewissensbisse vom Mädchen bedienen lassen, ich aber genierte mich
und errötete oft. Wenn ich um ein Glas Wasser bat, wandte
ich mich ab, ebenso wenn mir das Mädchen am Morgen meine Schuhe hereinbrachte.
    Anna konnte diese Scheu nicht mit
mir teilen, das war ihr fremd. Sie wurde mit dem seligen Gefühl der
Sicherheit und Überzeugung geboren, das sie glauben ließ, es gäbe Diener und
Herren, und so wäre alles in schönster Ordnung. Nun freilich – es ist ja
möglich –, vielleicht ist es so richtig. Ich hatte damals Tolstoj noch nicht
gelesen und wußte noch nichts über seine Lebensweise in Jasnaja-Poljana. Es gab
aber eine Zeit – im dritten Jahr meiner Ehe –, da lehnte ich mich auf. Meine
Mutter war damals gestorben, und ich fuhr zu ihrer Beerdigung. Es war ein
armseliges Begräbnis – ja, so bestattete man eine Dienerin, und ich wollte es
nicht anders, denn ich wollte mich und die Welt mit diesem Tode nicht betrügen
... Es war mein Wille, sie so arm beerdigen zu lassen, wie sie gelebt hatte –
sie einfach zwischen vier Bretter zu legen. Dann aber kehrte ich heim und fand
mich nicht mehr zurecht!
    Damals forderte ich, daß das Mädchen
mit an unserem Tisch essen sollte – an diesem Entschluß aber litten wir alle,
auch das Mädchen. Eine lief sogar davon, sie konnte das einfach nicht ertragen.
Anna vielleicht litt am wenigsten darunter. Sie bemühte sich, mich zu
verstehen. Eine Zeitlang stand ich immer auf, wenn das Mädchen ins Zimmer kam
... Jetzt weiß ich schon, was ich mit alledem
wollte – damals aber gehorchte ich ganz unbewußt einer Zwangsvorstellung. Anna
erduldete auch das. Dann wurde mir klar, daß mein Tun hoffnungslos war. Zwei
Welten leben nebeneinander, was wollte ich da eigentlich? Was konnte ich
dagegen ausrichten? Ich mußte mich abfinden damit. Anna empfand ihrer
Dienstboten wegen nie Schuldbewußtsein. Sie sagte, sie sei doch gut zu ihnen,
sie blickte mir ruhig in die Augen und versicherte mir immer wieder: ›Sie haben
alles, was sie brauchen.‹ Nun ja, sie hatten alles. Ich aber dachte immer an
meine Mutter. Hatte auch sie ›alles‹ gehabt?«
    »Wir sind
alle arm«, sagt der Richter sachlich. Der Arzt blickt auf. »Ja«, erwidert er
müde, »das ist aber etwas anderes. Arm in einem anderen Sinne! – Als ich

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